Als „Pinselheinrich“, mit Schlapphut, Zigarre und Zeichenblock kannte man Heinrich Zille in Berlin, wie er durch sein „Milljöh“ streifte und die Menschen um sich herum skizzierte. 1858 in ärmlichen Verhältnissen geboren, richtete er seinen Blick auf die Bewohner der Mietskasernen im Wedding ebenso wie auf Frauen in der Kneipe und Kinder der Straße. Szenen aus dem Berliner Volksleben am Ende der Weimarer Republik, humoristisch und sozialkritisch festgehalten und mit Bildunterschriften in schnodderigem Berliner Dialekt versehen. Weniger bekannt sind seine Zeichnungen und kunstvollen Radierungen. Käthe Kollwitz sagte einmal über ihn: „Es gibt noch einen dritten Zille, und dieser ist mir der Liebste. Der ist weder Humorist für Wi
Witzblätter noch Satiriker. Er ist restlos Künstler.“Immer wieder versuchten politische Gruppierungen, den im Bürgertum und einfachen Volk beliebten Künstler für sich zu vereinnahmen. Die Linken wollten ihn als „Vater Zille“ zum künstlerischen und kommunistischen Paten des Berliner Proletariats machen. Konservative verspotteten ihn als pornografischen Witzblattzeichner. Auch die Nationalsozialisten konnten den 1929 verstorbenen Zille nach ihrer Machtübernahme nicht ignorieren. Zwar widersprach sein Werk gänzlich den Parteigrundsätzen, aber seine Popularität verbot ihnen eine öffentlichkeitswirksame Diffamierung.Stattdessen gingen sie subtil gegen seine Präsenz vor. Zwei Zille-Denkmäler wurden entfernt, ein Film über ihn durfte nicht mehr gezeigt werden, seine Publikationen wurden verboten und aus den Leihbibliotheken genommen. Von 1936 an schwang die Vorgehensweise der Nationalsozialisten dann plötzlich um. Sie versuchten nun, Zilles Linkstendenz zu relativieren und sie als historisches Phänomen ohne Gegenwartsbezug zu entschuldigen. Fortan waren seine Bilder wieder auf dem Kunstmarkt zu finden und es erschien sogar eine „neubearbeitete Ausgabe“ von Zille’s Hausschatz im Paul Franke Verlag. Hans Ostwald hatte den Bilder-Gedenkband ursprünglich 1931 herausgegeben.Pay Matthis Karstens hat jetzt im Vergangenheitsverlag eine Rezeptionsgeschichte publiziert, die zeigt, wie Zilles Werk zwischen 1933 und 1945 propagandakonform umgedeutet wurde. Körperlich oder geistig beeinträchtigte Kinder, Juden, Kriegsversehrte und faule Arbeiter wurden aus der Neuauflage des Hausschatz herausgestrichen. 1941 folgte eine weitere Auflage der verfälschten Fassung. Warum gerade dieser Band das Interesse des Regimes fand, bleibt fraglich. Pay Matthis Karstens vermutet, dass größtenteils der SA-Standartenführer des Wedding Otto Paust für die ideologische Aufladung des Werkes verantwortlich war. Dieser bislang unerforschte Autor zählte zu „Hitlers Kriegspoeten“ (Karstens) und hatte mit der Deutschen Trilogie einen millionenfach verkauften Bestseller geschrieben, die Gründungssaga der NS-Diktatur. Warum sich der Autor jedoch gerade der Vereinnahmung Heinrich Zilles für die NS-Propaganda annahm, ist unklar.Den umfangreichen Abbildungsteil aus der ursprünglichen Version von Zille’s Hausschatz reduzierte er um mehr als 100 Seiten, die nicht der nationalsozialistischen Propaganda entsprachen. Ehemals pazifistische Bildtexte textete er kriegskonform um, Abbildungen, die von Mangel und Hunger berichteten, bagatellisierte er mittels humoristischer Bildunterschriften. Aus einem zeitgenössischen Kunstband wurde ein historischer Rückblick mit Unterhaltungswert. Der Hausschatz von 1931 war in großem modernen Schrifttyp gedruckt, die Neuauflage erschien in Frakturschrift mit deutlich kleinerer Schriftgröße. Die grafische Gestaltung wurde historisiert.Restbestände Nach Beginn des Krieges wurden durch den akuten Büchermangel antiquarische Bücher verkauft, Restbestände und „unerwünschte“ Bücher kamen illegal in die Buchhandlungen. War dies der Grund dafür, Zilles Bücher erneut auf dem Markt erscheinen zu lassen, um einen verbotenen Bücherverkauf zu vermeiden? Oder wollte man aus der Neuauflage eine heitere, leicht lesbare Anekdotensammlung für die abgespannten Rüstungsarbeiter und für die breite Masse machen, einfach zu konsumierende Unterhaltung, wie sie sich auch in Theater und Filmproduktionen dieser Zeit widerspiegelt?Aus Zille, dem „Proletarier“, wie Hans Ostwald ihn beschrieben hatte, wurde bei Otto Paust Zille, der „Volksmensch“. Die Rede war nicht mehr von einem nationalsozialistisch lesbaren Künstler, sondern von einem, dessen Werk nationalsozialistische Tendenzen aufweist. Otto Paust legte in seinem Geleitwort zur Neuausgabe genau fest, wie die Bilder zu verstehen seien und gipfelte in der Behauptung, Zille sei einzig deshalb nicht dem Nationalsozialismus beigetreten, weil er bereits auf dem Sterbebett gelegen habe. Dass Heinrich Zille von den Nationalsozialisten widersprüchlich rezipiert wurde, ist bekannt. Doch erst durch die neuen Archivfunde von Pay Matthis Karstens ist es gelungen, das Ausmaß der Vereinnahmung an den Tag zu legen. Die zensierten, gefälschten und verbotenen Bilder und Grafiken werden derzeit im Berliner Museum Villa Oppenheim gezeigt, kuratiert von Sabine Meister und Pay Matthis Karstens.