Auf Tinder war ich noch nie. Das Einzige, was ich darüber weiß, ist, dass dort Gesichter nach „Gefällt“ oder „Gefällt nicht“ sortiert werden können, durch ein Wischen nach rechts oder links auf dem Smartphone. Es ist extrem einfach, das doof zu finden. Im Vergleich zu anderen Internetportalen, auf denen die User neben ihrem Profilbild zumindest noch ihre Lieblingsbands oder -urlaubsorte angeben können, bevor sie sich in den Sympathiewettbewerb begeben, ist die Tinder-App an Oberflächlichkeit wohl kaum zu überbieten.
Das finden jetzt auch die Macher von meatface.me: Sie bieten Menschen an, Selfies auf die gleichnamige Webseite hochzuladen. Mitten auf das Gesicht wird dann ein grafisches Steak geklatscht. Das derart veränderte Profilbild soll schließlich den Tinder-Account der User zieren, um ein Statement gegen die dort praktizierte „Fleischbeschau“ zu setzen. Irgendwie witzig.
Zugegeben, auch ich habe kurz überlegt, diesen kleinen Protestspaß mitzumachen. Aber warum genau sollte ich das tun? Datingseiten an sich sind nichts Neues. Und sie haben durchaus ihre Berechtigung. Menschen suchen Partner. Ich sehe zwar die Gefahr, dass sich der Rückzug auf Onlineportale irgendwann negativ auf den Alltag auswirken kann, jedenfalls wenn man es damit übertreibt. Doch auch in der dreidimensionalen Außenwelt sind wir umgeben von ständiger Konkurrenz, es wird einem suggeriert, dass man schöner, erfolgreicher und liebenswerter sein könne, wenn man dies oder das konsumiere. Wir lernen, uns zu optimieren, uns in Gesprächen „richtig zu verkaufen“, bei Begegnungen zu verstellen. Genau dort, im real life, liegt das Kernproblem. Und dort entsteht auch die Sehnsucht nach Echtheit, Offenheit und Liebe.
Selbst wenn man Tinder im Speziellen vorwerfen mag, bloß eine Plattform für schnellen Sex zu sein, kann ich nur mit den Schultern zucken. Ich mache das zwar nicht mit – aber es ist doch vollkommen legitim, wenn sich zwei Erwachsene „nur“ für den Geschlechtsverkehr verabreden. Und wenn sich doch einige in der Hoffnung auf „wahre Liebe“ bei Tinder & Co anmelden, finde ich das nicht verachtenswert, sondern vor allem traurig. Es sind Unternehmen wie Tinder, die gewohnt marktförmige „Lösungen“ anbieten. Die Botschaft: Die Möglichkeit des Glücks liegt direkt vor dir, wenn du nicht zugreifst, bist du selbst schuld. Pathologisiert wird das Individuum – nicht die Gesellschaft. Und jetzt soll ich mich bei Meatface über Leute, die ihre Hoffnungen dahinein setzen, lustig machen?
Klar: Erwachsene sollten in der Lage sein, sich von all dem Druck freizumachen. Doch so einfach ist es nicht. Der Mensch ist eben auch ein soziales Wesen, von dem beeinflusst, was um ihn herum geschieht. Genau das zeigt auch Meatface wieder: Es ist eine – verständliche – Reaktion auf eine gesellschaftliche Entwicklung. Doch sie bietet auch keine Lösung. Im Gegenteil. Sie hackt ebenso oberflächlich auf empfindsamen Menschen herum und bringt damit eine kurze Bedürfnisbefriedigung für solche, die sich als „kritische Beobachter“ sehen. Damit ist Meatface lediglich eine weitere Erfindung unseres Oberflächlichkeitszeitalters. Ich finde es traurig, in einer so kalten Umgebung zu leben. Denn sie beeinflusst auch mich, ob ich will oder nicht. Und wenn ich mich dann doch mal darüber lustig mache, dann nur, um diese Realität ein wenig von mir wegzudrücken. Mit anderen Worten: Meatface hätte auch von mir sein können.
Kommentare 3
Eine AutorIn, die Tinder nicht benutzt, schreibt über eine Seite, die sich über Tinder lustig macht, und fragt: was soll das?
Eine UserIn, die Tinder nicht benutzt und die Seite nicht kennt, die sich über Tinder lustig macht, liest den Artikel der AutorIn und fragt: was soll das?
Eine LeserIn, die Tinder nicht benutzt und die Seite nicht kennt, die sich über Tinder lustig macht, und den Artikel der AutorIn nicht gelesen hat, liest den Kommentar der UserIn und fragt: was soll das?
Ein Hauch der Unendlichkeit weht mich an.
Wenn man nichts zu sagen hat, muss man schweigen.
Zwei Dinge sind, laut Einstein, unendlich, und bei dem einen war er sich nicht sicher.
Sehnsuchtsbedürfnisorientiertes Zusammenfinden von Menschen war auch schon vor Tinder und dem Internet traurig, vielleicht sogar doch verachtenswert.
Warum sollte die Hoffnung auf das Finden "Wahrer Liebe" über Tinder trauriger sein, als in allen anderen Bereichen des (gesellschaftlichen) Lebens?
Die mit dem 'Kompetenz'-Abschnitt geschlagene Brücke zum 'real life' finde ich hingegen äußerst gelungen.
[BTW: Die Marktförmigkeit der "Lösung" Tinder lässt sich in diesem Fall unschwer außen vor lassen, da aufgrund der Priotrtät der Bedürfnisse sich solcherlei Plattformen (bis hin zu bloßen Sex-Dating-Foren) auch unkommerziell/community-getragen entwickelt haben [o. vgl. auch: 'Mitfahrgelegenheit', 'Couchsurfing', ...]]