Lernen, die Welt zu verstehen

Appell Ein Guide für naive Weltverbesserer und alle jungen Menschen da draußen, die im Begriff sind, die Welt verstehen und ändern zu wollen.

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Nach dem Abitur 2014 nahm ich mir ein halbes Jahr frei, bevor ich mein Studium begann. Ich hatte das erste mal in meinem Leben plötzlich unheimlich viel Zeit herauszufinden, was mich wirklich interessiert. Es gab keinen Lehrplan, nach dem ich mich richten musste, keinen Notenschnitt, den ich zu erreichen hatte. Meine Motivation speiste sich alleine aus meinem Interesse und meiner Wissbegierde. Der folgende Text fasst zusammen, was mich die letzten zwei Jahre politisch geprägt hat, wie ich damit umgehe und welche Schlüsse ich daraus für die Zukunft ziehe.

Ein Rückblick auf die letzten zwei Jahre

Phase 1 – Erkenntnis

Demokratie ist nur noch eine Worthülse

Das zeigt sich immer dann, wenn in der Politik Entscheidungen getroffen werden, die nicht wirklich mit dem konform gehen, was wir Grundrechte nennen. Nur ein paar Beispiele: Die als Kampf gegen den Terror getarnte und nun wieder beschlossene Vorratsdatenspeicherung unterminiert den Grundsatz der Unschuldsvermutung. In Spanien wurde die Demonstrationsfreiheit beerdigt, da dort nur noch unter strengen Auflagen und unter Androhung von hohen Geldstrafen bei Zuwiderhandlung, demonstriert werden darf. In Griechenland, dort wo die Demokratie erfunden wurde, wurde diese durch eine Herrschaft der Finanzpolitik und -Industrie ersetzt. Das „OXI“ Referendum, mit dem die griechische Bevölkerung ein Ende dieser Politik herbeisehnte, stellte sich als Farce heraus und letztendlich musste die destruktive Sparpolitik als Bedingung für weitere „Rettungspakete“ doch weitergeführt werden.

Kriege im Namen der Geopolitik

Der Syrienkrieg ist das Ende einer Kette endloser Konflikte, die ihren Ursprung im Jahre 1954 hat. Damals initiierte die CIA im Iran eine Serie von Regierungsumstürzen und Kriegen, die den gesamten nahen und mittleren Osten bis heute mit unermesslichem Elend überziehen. Mehrere Millionen Tote, die ihr Leben lassen mussten, damit uns, also den Industrienationen, nicht das Öl ausgeht.

Ein Thema mit noch größerer Relevanz dürfte es nicht geben:

Die Auswirkungen unseres Konsumverhaltens sind zerstörerisch. Von der Wahrnehmung eines Produktes in der Werbung bis zu seinem Verschwinden im Müll, bekommen wir nicht viel davon mit. Die Zerstörung des Regenwaldes wird mittlerweile in Fußballfeldern pro Sekunde angegeben und unser Wohlstand ist nur möglich, weil jeder von uns in der dritten Welt indirekt zwischen 20 und 50 Sklavenarbeiter beschäftigt. Diesen Tatsachen sind wir uns zwar alle irgendwie bewusst, nur fangen wir damit nichts an.

So weit, schlecht.

Das Schlimmste dabei ist allerdings hinzunehmen, dass wir zwar trotz des Internets mit nur wenigen Mausklicks die obigen Informationen nachvollziehen könnten, aber offensichtlich nur wenige diese Möglichkeit nutzen. Denn die meisten Medien, die wir jeden Tag konsumieren, sind viel eher eine Mauer als ein Fenster zur ungeschönten Realität. Anstatt die Wirklichkeit zu beschreiben, verzerren sie diese, kreieren gar eine eigene. Sie entscheiden darüber, welche Informationen an die Öffentlichkeit gelangen und haben es damit letztendlich in der Hand, völlig irrelevante Dinge als unfassbar wichtig erscheinen zu lassen.

Phase 2 – Verzweiflung

Auf die Phase der Erkenntnis folgte dann die Phase der Verzweiflung und des Ohnmachtsgefühls. Man sieht sich all dem nicht gewachsen und möchte am liebsten im Boden versinken. Ja die Welt ist schon schlimm, doch je genauer man hinschaut, desto schlimmer wird sie.

Phase 3 – Hochmotivation

Nach einiger Zeit macht man sich im Internet auf die Suche nach Menschen, die die selben Sorgen teilen. Und es zeigt sich, dass es eine doch beachtlich große Zahl von Menschen gibt, die die Verzweiflung hinter sich gelassen haben und versuchen, ihren Teil dazu beizutragen, Utopie ein Stück weit Wirklichkeit werden zu lassen. Die Verzweiflung schlägt in Motivation um. Man teilt Artikel und unterschreibt Petitionen. Die Vorstellung, die Welt mit ein paar Klicks retten zu können, ist so genial wie naiv. Also spendet man an gemeinnützige Organisationen, unterstützt tolle crowdfinanzierte Projekte, versucht ständig Menschen im eigenen Bekanntenkreis mitzuziehen und beginnt schließlich damit, eigene Texte zu schreiben, in der Hoffnung, die alles entscheidenden Worte zu finden, irgend etwas auf Papier zu bringen, auf das nie jemand zuvor gekommen war.

Phase 4 – Resignation

Der Phase der Hochmotivation folgt dann irgendwann die der Resignation. So sehr man auch versucht ein naiver Weltverbesserer zu bleiben, irgendwann passiert das, was passieren muss und die Motivation lässt nach. Optimismus schlägt in Pessimismus um. Man sieht überall nur Gewalt und Terror, und Menschen, die davor fliehen. Man schaut dabei zu, wie ein ungerechtes Steuersystem die Armen ärmer und die Reichen reicher macht. Und PEGIDA, als ein Resultat dieses Systems, sieht die Ursache für Ungerechtigkeit und bedrohte Existenzen… bei der Flüchtlingspolitik? Nein, oder?

Es scheint sich offenbar überhaupt gar nichts zu ändern, und wenn doch, dann nur zum schlechteren. Das Meer der Gleichgültigen entzieht mir den letzten Rest Optimismus.

Und nun?

Warum mache ich also trotzdem weiter? Edmund Burke, ein britischer Philosoph des 18. Jahrhunderts, sagte einmal: „Für den Triumph des Bösen genügt es, wenn die Guten nichts tun.“

Wenn, wie aktuell in Europa und den USA zu beobachten, sich immer mehr Menschen völlig zurecht um ihre Zukunft fürchten, der Sozialstaat schwächelt, zeitgleich Millionen Menschen fremder Kulturen in Europa Zuflucht suchen und uns zu allem Überfluss noch der Planet unter dem Hintern weg fault, gibt es langfristig nur zwei Wege für die Zukunft.

Erstens: Wir stecken den Kopf in den Sand, lassen uns weiter die Illusion einer halbwegs heilen Welt vorgaukeln, verurteilen Menschen, anstatt sie zu verstehen und geben die Schuld „denen da oben“. Was darauf folgt, können wir in Ansätzen jetzt schon beobachten. Rechte gegen Linke, Liberale gegen Konservative oder Gutmenschen gegen „Aufgewachte“, Türken gegen Kurden oder Sunniten gegen Schiiten. Die Menschen teilen sich in Lager und bekriegen sich gegenseitig. Das alles spiegelt eine ideologische Vernarrtheit auf beiden Seiten wieder. Dann, aus einer gesellschaftlichen Opferhaltung heraus, schließen sich die Menschen extremen politischen Kräften an, in der Annahme, man könne so die Probleme in den Begriff bekommen. Der Planet wird derweil mit allem was darauf lebt weiter zu Grunde gehen, weil wir zu beschäftigt sind, um uns mit den wirklich wichtigen Dingen auseinander zu setzen. Sind Missbildungen durch Radioaktivität, immer mehr Tote durch Antibiotikaresistenzen oder das Bienensterben nicht schon genug warnende Zeichen?

Der andere Weg besteht darin, durch Engagement, Aufklärung und vor allem Verständnis für Andersdenkende die Gesellschaft vom Spalten abzuhalten und für ein sozialeres Miteinander und ein nachhaltigeren Umgang mit der Natur einzustehen. Deshalb lautet mein Rat an alle naiven Weltverbesserer und die, die es noch werden wollen: Macht weiter. Wir haben keine Wahl!

Die schlechte Nachricht: Das Ergebnis, der Zustand unserer Gesellschaft in einigen Jahren, hängt davon ab, wie viele den einen oder den anderen Weg einschlagen.

Die gute Nachricht ist: Jeder kann selbst entscheiden, welchen der beiden Wege er einschlagen möchte. Wenn jeder z.B. über seinen Konsum einen kleinen Beitrag dazu leistet, ist es gar nicht nötig darauf zu warten, dass von oben jemand einen kollektiven Sinneswandel befiehlt.

Der Kassenzettel ist ein Stimmzettel. Und zwar jedes verdammte Mal.

Eins steht fest: Wir leben in turbulenten, aber vor allem entscheidenden Zeiten. Aktuell finden so viele brisante Entwicklungen statt, dass sich nicht mehr darüber diskutieren lässt, ob wir uns ändern müssen.

Die gegen die Macht von Banken und Konzernen rebellierenden Kräfte gewinnen zunehmend an Bedeutung und haben spätestens mit Bernie Sanders auch ein politisches Gesicht bekommen. Es gibt zahllose geniale Ideen und technische Innovationen, die nur darauf warten, in die Tat umgesetzt zu werden. Das Potential zur Besserung ist enorm und der Wille dazu wird wachsen. Der Zug kommt ins Rollen. Jetzt kommt es darauf an, seine Richtung zu erkennen und aufzuspringen.

Zuerst erschienen auf mariuskaffine.de (April 2016)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marius Kaffiné

Student für Volkswirtschaftslehre und Soziologie | Themen: Gesellschaftspolitik, Medien, Globalisierung & Umwelt

Marius Kaffiné

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