Vor einem Jahr versammelten sich ein paar hundert Leute im Finanzdistrikt in Lower Manhattan. Es war die Geburtsstunde von Occupy im Zuccotti Park. Ich hatte das Glück, als einer der ersten dabei zu sein, wenngleich andere hier viel mutiger waren und zäher. Sie schliefen im Park und entwarfen über die Zeit echte Visionen für einen tiefgreifenden sozialen Wandel, während ich abends nach Hause ging und in einem warmen Bett schlief.
Ich war dort als einfacher Bürger hingegangen, als normaler, ratloser Mensch, weil ich den Eindruck hatte, dass die Präsidenten George W. Bush und Barack Obama die Ursachen der Finanzkrise nicht wirklich ernsthaft bekämpft hatten. Wenn sie etwas beschlossen hatten, dann mit einem Augenzwinkern in Richtung der globalen Finanzmogule: Keine Sorge, wir meinen es nicht wirklich ernst. Ich wollte einfach nicht glauben, dass die Sache damit erledigt sein sollte. Dass die Finanzwelt einfach so weitermachen konnte wie bisher. Also stand ich da im Zuccotti Park und überlegte, was ich tun könnte. Und ich fragte mich, was Amerika und die Welt wohl über uns und unsere Aktion denken würden.
Dann geschah eine Art Wunder. In allen größeren Städten der USA entstanden Occupy-Camps, und noch in der kleinsten Stadt fand eine Demonstration oder eine Kundgebung statt. Umfragen bescheinigten uns breite Unterstützung in der Bevölkerung, und die Medien hatten ein unerwartet großes Interesse.
Erdrückende Schuldenlasten
Wenn man dann mit Leuten redete, die zum ersten Mal bei einer Demonstration waren, kam einem das Ganze schon viel weniger überraschend vor. Vielen ganz gewöhnlichen Amerikanern drückte die eigene Schuldenlast die Luft ab, während mit unseren Steuergeldern reihenweise bankrotte Banken gerettet wurden, die dann mit weiteren Zwangsvollstreckungen gegen ihre Kunden vorgingen oder die Zinsen für Kreditkarten erhöhten. Ein Mann aus Illinois schrieb an einen Wall-Street-Manager: „Unsere Nachbarn stehen kurz vor der Zwangsräumung. Das Auto hat man ihnen bereits genommen. Der Vater ist Bauarbeiter, aber seit der Immobilienmarkt zusammengebrochen ist, gibt es da nicht gerade viel zu tun. Vielleicht erinnern Sie sich? War das etwa seine Schuld? Leuten wie Ihnen geht es großartig, während der Rest von uns untergeht.“
Nach sechs Wochen Occupy fingen wir an, uns Sorgen um unsere Bewegung zu machen. Denn der Protest gegen die Finanzkrise trat immer mehr in den Hintergrund. Stattdessen ging es immer öfter um Polizeigewalt gegen die Demonstranten oder um die Frage, ob so viele Menschen auf so engem Raum ohne Duschen und Toiletten zusammenleben könnten. Man konnte die Veränderung spüren: Journalisten begannen, die Camps abstoßend zu finden, und die Polizei betrachtete uns nicht mehr als Bürger, sondern als Gegner.
Als die Polizei in Oakland dem Demonstranten Scott Olsen am 26. Oktober 2011 eine Tränengaskartusche an den Kopf schoss, schwand in mir die letzte Hoffnung. Olsen hatte zwei Einsätze als Marineinfrantrist im Irak überlebt. Nun war ihm zu Hause der Schädel zertrümmert, worden, weil er sein Recht auf Demonstrationsfreiheit wahrgenommen hatte. Das war’s dann, dachte ich. So endet gewaltloser Widerstand. Selbst in Demokratien kann man Proteste jederzeit mit Brutalität aushebeln oder unter dem Vorwand der Gesundheitsvorsorge.
Briefe an Finanzbosse
In jener Nacht klickte ich mich durch die Seiten der vielen Occupy-Camps überall in den USA. Schließlich landete ich auf der Webseite „Occupy the Boardroom“. Dort posteten Menschen, die niemals auch nur in die Nähe eines Occupy-Camps gekommen waren, Briefe an die Topmanager der sechs größten US-Banken. „Occupy the Boardroom“ versprach, alle diese Briefe per E-Mail direkt an die Finanzbosse weiterzuleiten. Es war ein Abbild der Krise, so wie die Menschen sie erlebten. Viele der Schreiber konnten kaum noch ihren Lebensunterhalt bestreiten, manche hatten mehrere Jobs, um ihr Haus zu retten, oder sie pflegten kranke Familienangehörige. Aber sie unterstützten die Proteste und erklärten so verständlich, wie ich das nirgendwo anders gesehen hatte, was die Banken den Amerikanern angetan hatten und warum sie sich dagegen wehrten.
Seit der Zuccotti Park vor zehn Monaten geräumt wurde, haben mir diese Briefe durch alle Wirren von Occupy hindurch den Weg gewiesen. Aus den 8.000 Briefen haben wir 150 herausgesucht und daraus ein Buch gemacht, das wir auch Mitt Romney und Barack Obama schicken werden.
Die Leute fragen mich immer wieder, ob und wie es mit Occupy weitergehen wird, ob die Bewegung irgendeinen Erfolg gehabt hat, ob sie vielleicht die Haltung der Mächtigen geändert hat. Ich selbst weiß auf all diese Fragen keine Antwort. Aber eines ist gewiss: Seit diese Briefe erschienen sind, kann niemand mehr behaupten, er wisse nicht, was in den USA schiefgelaufen ist, warum Occupy entstanden ist und so viel Zulauf hatte. Niemand kann mehr behaupten, er wisse nicht, welche Lösungen die Menschen verlangen. Und erst recht nicht, dass es gute Gründe für die tiefe Unzufriedenheit in diesem Land gibt.
Marc Greif ist Literaturwissenschaftler und Occupy-Aktivist der ersten Stunde
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