Am Millerntor wird zurzeit bis spät in den Abend gewerkelt. Der FC St. Pauli baut eine neue Haupttribüne. Ihr Betonskelett ist gut zu sehen vom Balkon des Ballsaals, der in der Südkurve des Stadions untergebracht ist. „Dort in der Mitte“, sagt ein Mann und zeigt mit seiner Zigarette etwas verächtlich auf die Baustelle schräg gegenüber, „befinden sich in Zukunft die Logen und Business-Seats.“ Eigentlich nichts Ungewöhnliches für einen Profiverein, zumal für einen frischgebackenen Erstligisten. Für den Kiezklub aber schon. Er definiert sich über das Anderssein: die enge Bindung zum Stadtteil, das soziale Engagement, die antifaschistische Fankultur.
Dass die Kicker auf dem Rasen seit einiger Zeit ab und an sogar ein
sogar ein bezauberndes Kurzpassspiel zeigen, passt auch nicht mehr so ins Bild des ewigen Underdogs, der gegen die Großen antritt. Dass der Verein beim Verkauf seiner Totenkopf-Kollektionen längst mit den Merchandising-Riesen der Liga mithält, erst recht nicht – wenngleich 90 Prozent der Erlöse an einen externen Vermarkter gehen. Ein schlechter Deal aus finsteren Zeiten, sehr zum Verdruss der aktuellen Verantwortlichen."Ritt auf der Rasierklinge"Der Mythos St. Pauli hat im hundertsten Jahr des Vereinsbestehens ein paar Schrammen abbekommen. Helmut Schulte drückt es anders aus: "Es ist ein Ritt auf der Rasierklinge." Der Sportdirektor des Klubs sitzt drinnen im Ballsaal, inmitten einer illustren Runde. Der Philosoph Klaus Theweleit ist gekommen, der Schriftsteller und bekennende Sachsen-Leipzig-Fan Clemens Meyer, der Ex-Fußballprofi Yves Eigenrauch und die Hamburger Autorin Simone Buchholz. Sie sprechen über "Fußball zwischen Kiez, Kult und Kommerz".Dabei geht es nicht ohne ein paar Klischees ab. Gemeinplatzwartin ist Simone Buchholz. Sie besitze selbstverständlich eine Dauerkarte ihres Lieblingsklubs und wohne seit vielen Jahren auf St. Pauli. Ihr 2008 erschienener Debütroman Revolverherz spielt im Viertel, das sie als „bunt, liebevoll, warmherzig und schnodderig“ beschreibt. Doch der Dorffrieden ist bedroht. Investoren sichern sich die Filetstücke zwischen Hafen und Heiligengeistfeld, die Mieten explodieren, Partytouristen aus halb Europa haben St. Pauli zu ihrer Kampfzone erklärt.„Das Viertel wird zum ganz großen Geld-Ding ausgebaut“, sagt Buchholz und bedient sich bei der Agenda der Anti-Gentrifizierung-Bewegung, in der bei allem berechtigten Zorn immer auch eine traditionalistische Abwehrhaltung der Alteingesessenen mitschwingt. Kann ein Fußballverein, der sich als Herzkammer des Viertels versteht, die Widersprüche auffangen und trotzdem Kult bleiben?Neue und alte Klientel vereint?Helmut Schulte, der Realist, grummelt. Er sei nicht für den Mythos St. Pauli zuständig, sagt er, sondern dafür, eine schlagkräftige Truppe zusammenzustellen. Das hat auch mit Geld zu tun. Er zitiert noch einmal sein Rasierklingen-Bild heraus und schneidet eine Diagonale durchs Stadion: Auf der linken Seite, mit der schmucken Süd- und Haupttribüne, ist die moderne Ära eingezogen – auf der rechten, nur spärlich überdachten Seite regiert noch der morbide Charme von gestern. Die neue und alte Klientel Seit' an Seit' vereint im gemischten Prosecco- und Bier-Paradies – so oder so ähnlich lautet das Gegenwartskonzept des FC St. Pauli, das noch einige Jahre tragen soll.Aber was nützt der nobelste soziologische Spagat, wenn die Stürmer nicht treffen? Klaus Theweleit formuliert es so: "Man kann den Ball nicht ins Tor quatschen." 2004 erschien von Theweleit ein Fußball-Essay: Tor zur Welt. Fußball als Realitätsmodell. Darin beschrieb er, wie das abstrakte Denken im Fußball Einzug hielt. Er sah es vor allem im Spiel der Holländer, die als eine der ersten den Raum in Raster aufteilten und mit eleganten, beweglichen Ketten klein machten. Sein Antimodell: der deutsche Klopper, verbissen und autoritär.Diese Spezies ist inzwischen auch hierzulande fast ausgestorben. „Die Blutgrätsche ist zurückgegangen“, sagt Theweleit, der Ästhet und Anhänger des SC Freiburg. „Die Terrier-Dominanz wurde aufgelöst in Spieldenken.“ Sein euphorisches Fazit: „Noch nie wurde auf der Welt so schöner Fußball gespielt wie heute.“ Das habe mit der optimalen Ausbildung des Nachwuchses zu tun und auch ein bisschen mit der Digitalisierung des Fußballs: Die Star-Kicker spielten sich auf der Konsole selbst nach und holten sich von den simulierten Bewegungen Inspirationen für ihr Spiel auf dem Feld. Diese These hat Theweleit von dem Fußballjournalisten Christoph Biermann geliehen, der darüber kürzlich ein Buch veröffentlichte.Applaus für die BlutgrätscheEine steile These. Zu steil für Clemens Meyer. Er siedelt seine Romanfiguren zumeist im sozialen Abseits an und liebt den Proleten-Fußball, der dreckig ist und schmerzt. Den Fußball, den der FC St. Pauli noch bis vor gar nicht allzu langer Zeit gespielt hat und den Sachsen Leipzig, Meyers Verein, bis heute spielt. „Früher haben die Leute bei einer Blutgrätsche geklatscht und nicht bei Tändel und Tamtam“, sagt er. Dafür erntet er im Ballsaal Applaus – von denen, die im Stadion rechts von der Diagonale stehen.Die Tür geht auf, ein Mann schleicht herein. Er ist zu spät „Das ist das erste Mal in hundert Jahren“ raunt er seiner Verabredung am Nebentisch zu“, „dass hier eine Veranstaltung pünktlich beginnt.“ Eine neue Zeitrechnung ist angebrochen am Millerntor.