Die deutsche Fußball-WM-Geschichte ist im Grunde eine Geistergeschichte. 1954 hatten wir den Geist von Spiez. Von 1974 bis in die 90er hinein den Geist von Malente. Zwischendurch – 1982 war das – gab es den Himbeergeist vom Schluchsee, der dazu führte, dass das Gewässer im Schwarzwald für die Zeit des Trainingslagers in „Schlucksee“ umbenannt wurde. Mit welchem Geist bloß geht die Nationalmannschaft diesmal in die Vorbereitung? Mit dem Arbeitsgeist? Oder dem Geschäftsgeist? Klingt öde, ist öde. Doch für den dritten Platz wird’s schon wieder reichen.
In früheren Zeiten hat man erst einmal zusammen gesungen, bevor man sich in die Adiletten schwang. Besser gesagt: Gesungen hat der prominente Vorturner, der Rest bru
r Rest brummte irgendwie mit. Unvergessene Aufnahmen sind so entstanden: Buenos días, Argentina (1978) mit Udo Jürgens zum Beispiel, Olé España (1982) mit Michael Schanze oder auch México mi amor (1986) mit Peter Alexander. Das war so herrlich miefig wie die käsebleichen Waden der Kicker und ihre blickdichte Wolle auf der Brust. Wegrasieren? Nur das Standbein meines Gegenspielers.Das AngstwortHeute schwingt man sich zur Einstimmung aufs Mountainbike und dreht eine Runde durch die Natur. Auch jetzt wieder in Südtirol. Ist wohl eine dieser von promovierten Psychologen ersonnenen Teambuildingmaßnahmen. Der Medienöffentlichkeit soll die Radfahrerei signalisieren: Wir sind total entspannt. Thomas Müller legte sich dabei vor vier Jahren volles Rohr aufs Gesicht. Er sah danach aus wie Nosferatu. Und, hat es ihm geschadet? Beim anschließenden Turnier schoss er fünf Tore und wurde Schützenkönig.Nicht alle haben so ein Glück. Denken wir an Lars Bender. Der kam letzte Woche heil von der rituellen Radtour zurück und verletzte sich dann im Training am Oberschenkel. Muskeln, Sehnen, alles kaputt. Bedeutet: WM-Aus! Das ist das Angstwort der Vorbereitung. Mit dem „WM-Aus!“ schmilzt unsere Titelhoffnung schneller als das Polareis durch den Klimawandel. Bang verfolgen wir die tägliche Pressekonferenz, die in erster Linie ein Update des aktuellen Verletztenstandes ist. Was macht die Schulter von Manuel Neuer? Was ist mit Lahm, was mit Schweinsteiger? Unsere Gedanken und Gebete sind bei Mannschaftsarzt Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt, der zwischen München und Südtirol hin- und herflitzt. Reichen seine schamanischen Kräfte? Fährt er auch vorsichtig? Warum, verdammt, hat der mit 71 noch kein einziges graues Haar?Jedes Trainingslager ist immer das beste, das es jemals gab. Das Fünfsternehotel Andreus in St. Leonhard ist natürlich perfekt. Das Personal hat sich verpflichtet, kein Sterbenswort nach draußen zu tragen und auf eigene Autogrammwünsche zu verzichten. Es wurde eigens eine Eiswürfelmaschine angeschafft, leider nicht für Gin Tonics. Die Marketingdirektorin des Hotels zum Sport-Informations-Dienst: „Es werden bis zu 200 Kilo Eis am Tag benötigt für die Kühlung der Beine nach dem Training.“ 200 Kilo! Hier kommt wieder Doktor Müller-Wohlfahrt ins Spiel, der wahrscheinlich gerade mit seinem Audi auf dem Brenner feststeckt (Udo Jürgens 1990: „Wir sind schon auf dem Brenner, wir brennen schon darauf“), während Kollege Rainer Ernst, noch so eine Koryphäe, auch mal gute Nachrichten aus Brasilien hat.Ernst ist der Mü-Wo des grünen Rasens. Ein Wiesenguru. Er ist vor Ort im verregneten WM-Quartier in Bahia und wusste zu vermelden: Alles abgesoffen, aber der Trainingsplatz steht noch. Von wegen Samba, Sonne, Sorglosigkeit. Schon geht das Gerücht um, Jogis Jungs müssten unter Umständen mit dem Kanu in ihr Luxusressort paddeln. Schlimmer noch: Das Strom- und Handynetz soll instabil sein. Das heißt im schlimmsten Fall: kein Telefonieren, kein Surfen, keine Playstation. Wer hält das aus? Das liebste WM-Ritual aller Nationen ist programmiert: der Eklat.Der Fairness halber muss man eingestehen, dass der grobe Ungehorsam, das blindwütige Sich-daneben-Benehmen in den letzten Jahren, ja, schon fast Jahrzehnten, zumindest bei den Deutschen stark aus der Mode gekommen ist. Kein Spieler nennt den Trainer mehr „Suppenkasper“ wie Uli Stein 1986 Franz Beckenbauer. Keiner stößt den Fernsehreporter beim Interview vor Zorn fast in den Pool wie Paul Breitner 1982 Harry Valerien. Überhaupt ein Pool-Interview einen Tag vor dem Finale! Drumherum normale Hotelgäste, die jedes Wort mit einem Nicken quittieren und frech in die Kamera grienen. Sagenhaft.Zocken, zechen, bumsenDas Trainingslager am Schluchsee war seinerzeit Schauplatz für eine ganze Kanonade von Eklats. Toni Schumacher, damals im Tor, hat es in seinem Buch Anpfiff dokumentiert: „Nicht selten“, heißt es dort, „wurde um 20.000 bis 30.000 DM gespielt. Andere bumsten bis zum Morgengrauen und kamen wie nasse Lappen zum Training gekrochen.“ Zocken, Zechen, Frauenbesuche – heute undenkbar. Das einzige Unruhepotenzial geht von Spielerberatern aus, die gewinnbringende Gerüchte streuen. Zum Beispiel: Wechselt Toni Kroos zu Manchester United oder bleibt er in München? Da zittern schon mal die Nerven. Da schmettert man beim Tischtennis schon mal neben die Platte.Die Wahrheit liegt sowieso auf dem Platz. Und auf dem zählen nur die Automatismen. Ohne Automatismen fahren wir nicht zur WM, das steht mal fest. Automatismen sind die Zauberformel für den Erfolg. Das weiß das Trainerteam, und das wissen die Sportjournalisten, die Ahnung haben. Auf spox.com etwa beschrieb ein Kollege, worauf es ankommt in den nächsten Wochen bis zum ersten Gruppenspiel am 16. Juni gegen Portugal: „Seitliches Verschieben, Zurückweichen, Vorschieben, Höhe halten, Klemmen und Lenken oder Durchschieben zum Doppeln.“ Das müssen Jogis Jungs bis zum WM-Start wie im Schlaf beherrschen. Dann kommt sie vielleicht der Geist von Spiez besuchen. Oder sogar der von Malente.