Vor einigen Jahren habe ich im Radio mit Dieter Wiefelspütz über Einwanderung diskutiert – er war damals innenpolitischer Sprecher der SPD. Wiefelspütz wiederholte dabei immer wieder kategorisch, es sei der Bundestag, der darüber entscheide, wer nach Deutschland kommen dürfe und wer nicht. Mit Blick auf die damalige Finanzkrise fügte er hinzu: Wer in diesen Zeiten mehr Einwanderung fordere, der sei doch „gaga“. Später dann, als die Mikrophone aus waren, meinte Wiefelspütz plötzlich: Die illegale Einwanderung könnten wir doch gar nicht verhindern. Beim Thema Einwanderung inszenieren Politiker sich gern als harte Knochen. Hinter den Kulissen räumen sie dann ein, wie wenig sie die Dinge tatsächlich unter Kontrolle haben.
Gegenwärtig herrscht keine Krise in Deutschland, und der Arbeitsmarkt lechzt geradezu nach Einwanderern. Mittlerweile spricht sogar Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer vom „Zuwanderungsgewinn“. Dennoch gibt es, angetrieben durch steigende Flüchtlingszahlen, eine Debatte über unrechtmäßige Einwanderung, die im politischen Diskurs gern als „Armutsmigration“ oder „Einwanderung in unsere Sozialsysteme“ diskreditiert wird. Für diese Form der Migration hat Seehofer ganz andere Worte gefunden: „Bis zur letzten Patrone“ wolle er gegen sie kämpfen, hatte er 2011 erklärt. Die Politik debattiert über die Art der Einwanderung nach Deutschland, darüber, ob wir die Einwanderer „geschickt auswählen“, wie es Wirtschaftsguru Hans-Werner Sinn ausdrückte. Er beklagte zuletzt „verzerrende Anreizstrukturen“, die vor allem schlecht ausgebildete Migranten anlocken, was wiederum die Integrationskraft der deutschen Gesellschaft überfordern würde. Solche Bemerkungen passen zur Dauerdiskussion darüber, ob bestimmte Einwanderer „integrationswillig“ oder gar „integrationsfähig“ seien. Durch die Anschläge von islamistischen Radikalen wird diese Debatte noch angeheizt.
Nun kann man Probleme nur dann lösen, wenn man die Realität anerkennt. Und die zeigt, dass fast 90 Prozent der legalen Migration nach Deutschland durch Regelungen zum Familiennachzug, Asylgesetzgebung, internationale Abkommen wie die Genfer Flüchtlingskonvention oder der europäischen Freizügigkeit gedeckt ist. Es zeugt von einem erstaunlichen Mangel an Weitblick, wenn manche Politiker sich jetzt darüber beklagen, dass arme Rumänen oder Bulgaren es wagen, von der Freizügigkeit tatsächlich Gebrauch zu machen. Niemand hat das „Volk“ nach seiner Meinung gefragt, als es um die EU-Osterweiterung ging. Heute aber wird dessen mangelnde „Assilimationskraft“ beschworen.
Durch Weitblick hat sich die Migrationspolitik noch nie ausgezeichnet. Schließlich hat Deutschland über Jahrzehnte die Migration real befördert und gleichzeitig die Illusion aufrechterhalten, es sei kein Einwanderungsland. Wer über „Armutsmigration“ schwadroniert, der sollte bedenken, dass die Bundesrepublik in all diesen Jahrzehnten viele Einwanderer regelrecht entqualifiziert hat, weil deren im Heimatland erworbene Abschlüsse nicht anerkannt wurden. Zudem galt auf dem Arbeitsamt das sogenannte Inländerprimat: Einwanderer wurden erst dann vermittelt, wenn die letzte Karteikarte mit deutschen Staatsangehörigen verbraucht war. Bei Flüchtlingen ist es immer noch so.
Zudem wurden noch vor ein paar Jahren hochqualifizierte Einwanderer förmlich abgeschreckt: Sie mussten grotesk hohe Investitionen tätigen oder Einkommen erwirtschaften, wenn sie in Deutschland einen festen Aufenthaltsstatus anstrebten. Eine weitere Barriere ist das kafkaeske Ausländergesetz, dessen Regelungen selbst Fachanwälte zum Teil überfordern. Eine Willkommenskultur stellt sich nicht schon dadurch ein, dass das Bundesamt für Migration die Ausländerbehörden in Welcome Center umbenennen will.
Wegen des paradoxen Verhältnisses der Deutschen zur Einwanderung haben die Migranten begonnen, sich andere Wege zu suchen. Die Denunziation von „Wirtschaftsflüchtlingen“ mag einem das Gefühl moralischer Überlegenheit geben, doch realistisch betrachtet ist Migration stets ambivalent. Auch die heutigen Flüchtlinge sind nicht alle Opfer von Bürgerkriegen. Armutsmigrant und Wirtschaftsflüchtling sind Ausdrücke, die danach klingen, als würden diese Menschen bewusst anstreben, sich hierzulande in die soziale Hängematte zu legen. Dabei geht es doch vor allem um Leute, die in ihren Heimatländern keine Perspektive mehr sehen. Sie haben einen globalen Horizont, denn sie fliehen nicht in Nachbarländer, sie nehmen Entrechtung und sogar den Tod in Kauf, um ihr Ziel zu erreichen.
In Deutschland sieht man die Welt gern so, wie sie sein soll, aber nicht, wie sie ist. Nur wenn man die Realität akzeptiert, kann man die richtigen Maßnahmen ergreifen: Transparente Regelungen schaffen, für Rechtssicherheit sorgen, die „Ausländer“-Bürokratie abbauen, interkulturelle Öffnung vorantreiben, Leute nicht in Hilfestrukturen drängen, sinnvolle Qualifizierungsangebote machen, die Motivation von Einwanderern erhalten und nutzen. Dafür sollte man vor allem: mit der Moralisierung des Themas aufhören.
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