Die Aufgabe der 87-Prozent-Politik

Bundestagswahl Wer die Modernisierung in den Griff kriegt, wird die AfD zum Verschwinden bringen
Ausgabe 39/2017
Statt auf die AfD zu starren, müsste sich der Blick auf die Politik für die restlichen 87 Prozent richten
Statt auf die AfD zu starren, müsste sich der Blick auf die Politik für die restlichen 87 Prozent richten

Foto: Tobias Schwarz/AFP/Getty Images

Ich verstehe die ganze Aufregung nicht. Die AfD ist drittstärkste Kraft in Deutschland, aber war das nicht zu erwarten? Unter Angela Merkel hat die CDU aufgehört, den sogenannten „rechten Rand“ durch gezielt platzierte rassistische Sprüche zu bedienen. Zudem hat dieser „rechte Rand“ in den letzten Jahrzehnten eine Niederlage nach der anderen erlitten: die Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts, die De-facto-Abschaffung der Wehrpflicht, die Möglichkeit der „Verpartnerung“, zuletzt gar die „Ehe für alle“. Dazu kommen die lauter werdenden Ansprüche von Frauen, Homosexuellen, Transpersonen oder People of Color sowie die wachsende Bedeutung der Städte. Und dann wäre da noch, was der französische Autor Renaud Camus als „großen Austausch“ bezeichnet: In allen deutschen Städten sind bei den Kindern unter sechs die mit Migrationshintergrund in der Mehrheit.

All das geht schwer an die konservativ-nationale Substanz. Sagen wir mal so: Würde ich als traditionelles Familienoberhaupt in „geordneten Verhältnissen“ in Bayern auf dem Land leben, würde ich mir vermutlich auch große Sorgen über den Zustand des Landes machen. Zumal, wenn ich den vornehmlich aus dem Fernsehen kenne, wo man ja schnell das Gefühl bekommt, man müsse sich bewaffnen, bevor man die Innenstädte der Metropolen besucht. Angesichts von „Flüchtlingskrise“, „Köln“, dem Zustand der EU und islamistischem Terror bleibt der Erfolg des rechten Populismus letztlich bescheiden.

Wenn es nun um die Deutung des Populismus geht, kommt – wie nach Donald Trumps Wahlsieg – gleich der Klassiker der Interpretation auf den Tisch: Es liegt nicht nur an der Vernachlässigung der „sozialen Frage“. Die jüngsten Wahltrends zeigen auch andere Gegensätze: zwischen Jung und Alt etwa, oder zwischen Stadt und Land. Ein Grund, sich noch mal klarzumachen, dass der „rechte Rand“ durchaus bürgerlich ist. Das sind Leute, die ihre Positionen und ihre Definitionsmacht bedroht sehen und deren paranoider Widerstand gegen „Verschwulung“, „Gender-Irrsinn“ und „Multikultiwahn“ sich nicht mit der „sozialen Frage“ wegerklären lässt.

Es handelt sich um genuine Gegner der derzeitigen Modernisierung. Genau so muss man sie behandeln: nicht als „böse“, sondern als Gegner. Statt wie das Kaninchen auf die AfD zu starren, müsste sich der Blick auf die Politik richten, die für die restlichen 87 Prozent gemacht wird. Die meisten verstehen durchaus, dass es für eine komplexe Situation nicht immer „einfache Lösungen“ geben kann. Viele der „Bösen“ wiederum haben das Gefühl, dass sie von einer richtungslosen, kurzfristigen und opportunistischen Politik „überplant“ werden – ein Gefühl, das ich sogar teile.

Jetzt allerdings nach rechts nachzugeben, wäre schlicht dumm. Das Ergebnis kann man in Sachsen beobachten: Dann wird nämlich das „Original“ gewählt. Gerade in Fragen der Einwanderung und der demografischen Entwicklung wären Berechenbarkeit und Konsequenz gefragt: Statt spontaner Grenzöffnungen und eines unbestimmten „Wir schaffen das“ braucht es informierte Vorwegnahme von Krisensituationen und einen beherzten „Vielheitsplan“. Die AfD macht Meinungen sichtbar, die es längst gab. Man kann es auch gutheißen, dass die „Volksparteien“ diese Meinungen nicht mehr bedienen. Wirklich besorgniserregend ist der visionsfreie, herumlavierende Zustand der progressiven Kräfte.

Mark Terkessidis hat jüngst Nach der Flucht. Neue Ideen für die Einwanderungsgesellschaft (Reclam 2017) veröffentlicht

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