Über Lukas Podolskis mangelnden Torjubel gegen die polnische Nationalmannschaft ist viel gesprochen worden. Aber in dem Spiel gab es noch eine andere Szene, die durchaus der Rede wert ist. Als für Polen Roger Guerreiro kommen sollte, blendeten die Kameras ein, wie Trainer Leo Beenhakker dem Mittelfeldspieler noch ein paar taktische Anweisungen gab. Derweil grübelte der Kommentator, in welcher Sprache der aus den Niederlanden stammende Trainer wohl seine Erklärungen abgeben würde und mutmaßte: Spanisch. Guerreiro jedenfalls kann kein Polnisch, bloß Portugiesisch. Eine interessante Szene allemal: Der polnische Nationaltrainer, der Niederländer ist, gibt offenbar auf Spanisch Direktiven für einen ehemaligen Brasilianer, der unterdessen für Polen aufläuft.
Nun sind die Zeiten der ethnischen Homogenität im Fußball lange vorbei. England, Frankreich oder die Niederlande hatten aufgrund ihrer langen Einwanderungsgeschichte stets Teams, die sich aus Spielern unterschiedlicher Herkünfte zusammensetzten. Aktuell weisen fast alle Teams eine immense Vielfalt auf, selbst jene von ehemaligen oder aktuellen Auswanderungsländern - so befinden sich im Kader der Türkei der in Berlin geborene Hakan Balta und Hamit Altintop aus Gelsenkirchen. Die gleiche Mischung setzte sich auf der Ebene der Fans fort, denn in vielen Ländern Europas gibt es beträchtliche Diaspora-Gruppen. So kann es der Heimmannschaft schon mal passieren, dass sie von den angeblichen Gästen übertönt wird.
Allerdings sind die ehemaligen Brasilianer in Diensten vieler Teams ein neues Phänomen. Es begann mit Deco in Portugal und setzte sich mit Pepe fort, wobei es dort immerhin eine gemeinsame Geschichte und vor allem Sprache gab. Bei Roger Guerreiro aber lässt sich das ebenso wenig behaupten wie bei Mehmet (früher Marco) Aurelio in der türkischen Auswahl. Doch während Luis Figo sich im Fall des eingebürgerten Deco noch über die neue Beliebigkeit des Nationalteams beschwerte, scheint das heute kaum noch der Rede wert - das hindert niemanden am Schwenken der Nationalfahne, höchstens scheinbar unverbesserliche Anhänger eines veralteten Nationalismus.
Dennoch ist die Europameisterschaft per Definition ein nationalistisches Spektakel. Es wird geflaggt und geschrieen und die Aggressionen sind keineswegs nur bei den Hooligans mitunter erheblich. Aber wie lässt sich dieser Einsatz fürs eigene Land damit vereinbaren, dass die Staatsangehörigkeit zu einer Art Verhandlungsmasse geworden ist im Einsatz für die besten Spieler? Die Nationalteams sind nicht nur vielfältig, sondern international geworden. Dieser Prozess ist auf der Ebene der Vereinsmannschaften seit geraumer Zeit zu beobachten. Dass Manchester United oder Chelsea bloß noch lokale Chiffren für global operierende Unternehmen sind, ist wahrlich keine neue Entdeckung mehr. Mittlerweile hat sich diese Arbeitsweise ausgeweitet - von der Regionalliga bis hin zu den Nationalteams.
Trotz ihrer lokalen Jugendarbeit und anderer Aktivitäten sind die Vereine immer schwächer in den jeweiligen Städten verwurzelt, wobei sie auf den lokalen Bezug weiterhin angewiesen sind. So ändert das Lokale seine Funktion: Es verkörpert nicht mehr eine historische Gemeinschaft, sondern ein brand, eine Marke. Die Anhänger eines Vereins werden nicht mehr als sesshafte und treue Bewohner eines Ortes angesprochen, sondern als flüchtige Konsumenten. Diese neue Zuwendung entspricht durchaus der immensen Mobilität der Bewohner der Städte; in Berlin etwa ist in den vergangenen 15 Jahren quasi die Hälfte der Bevölkerung ausgetauscht worden.
Nun wollen jene Konsumenten dennoch das Gefühl vermittelt bekommen, dass sie dazugehören, dass sie für die Zeit des Events Teil einer Community sind. Damit das gelingt, muss der Lokalbezug selbst zur Ware werden. Um diesen Vorgang zu beobachten, lohnt sich ein Blick auf die Zeit vor dem Anpfiff auf dem Tivoli in Aachen und dem Rheinenergie-Stadion in Köln. Während in Aachen noch die traditionelle Hymne Alemannia Aachen wird nicht untergehen von der Band 3 Atömchen aus dem Jahre 1967 gesungen wird, deren Text ein erhebliches Wissen über Stadtgeschichte sowie Dialektbeherrschung voraussetzt, ertönt in Köln die Hymne Viva Colonia der Band Die Höhner (2004), in dem die Stadt zu einem referenzfreien Phantasieort mutiert ist - zwischen Aufruf zum Event ("da simmer dabei"), totaler Inklusion (multikulturell, -kulinarisch, -sexuell) und immer währendem Karneval.
Entsprechend ist das Publikum im Stadion heute ganz anders als früher. Mag sein, dass in manchen Stadien hierzulande der proletarische Mann noch dominiert - doch seine Zeit ist abgelaufen. Oft kann er schlicht die immensen Eintrittspreise nicht mehr bezahlen. Tatsächlich hat der neue Mittelstand die Stadien erobert, mit gemischten Konsequenzen. Während früher wie beim Quartett-Spielen locker die Ergebnisse, Punktestände und Torverhältnisse der letzten 30 Jahre ausgetauscht wurden, wird es heute in manchen Ecken des Stadions schon schwierig, jemanden zu finden, der die Mannschaftsaufstellung auswendig kann. Auf der anderen Seite setzt sich mehr und mehr ein neues Verhaltensreglement durch: keine Gewalt, kein Sexismus, kein Rassismus. Das Fußballstadion wird ähnlich wie die All-inclusive-Feriensiedlung zur Heterotopie, zu einem abgeschlossenen Ort, an dem die Phantasie der Gesellschaft über sich selbst real werden soll - hier gibt es keine Konflikte, sondern angeblich nur Menschen, die friedlich feiern.
EM und WM waren stets die fußballerischen Ereignisse auch für Nicht-Fans. Unterdessen überspülen diese Großereignisse alle zwei Jahre die Öffentlichkeit in einer ungekannten Weise. Die Nachrichtenlage schrumpft auf Fußballberichterstattung zusammen, der öffentliche Raum ist ein serieller Bildschirm geworden und schon vor dem ersten Spiel hat sich die Stimmung in hysterische Dimensionen gesteigert. Vorläufig regiert der Party-Patriotismus, wobei die Nation für die Nationalmannschaft ein ebenso leerer Referent geworden ist wie die Stadt für den Verein. Obwohl selbst Günter Netzer sich von der Idee verabschiedet hat, dass die Mannschaften noch irgendwelche nationalen Eigenheiten haben (nordische Härte, südländischer Larifari etc.), erlebt man die Wiedererstehung der Nation als Klischee. Die Niederländer malen ganze Blocks in Oranje, die schwedischen Fans tragen Wikinger-Helme, die Gesichter leuchten in den Nationalfarben.
So hat sich offenbar Tony Blairs Version des Nationalen durchgesetzt: Er definierte den Begriff United Kingdom recht erfolgreich zur Marke Cool Britannia um. Die flüchtigen Subjekte können sich hinter das National-branding scharen, um in einem ebenso flüchtigen "täglichen Plebiszit" das ganze Programm des Nationalstaates als durchaus ironisches Spektakel geboten zu bekommen: der Ausnahmezustand, die Schlacht, die Begeisterung, das Heldentum, der Sieg, das Märchen. Tatsächlich hat ausgerechnet die Kommerzialisierung des Fußballs zu einer Neubestimmung des leeren Nationalen als Klischee beigetragen, die das Nationale von jedem Zweifel befreit: Die Nation ist geil.
Selbstverständlich ist dieses Arrangement keineswegs so konfliktfrei, wie es scheint. Denn ebenso aufgeregt, wie in solchen Events die Nation positiv besetzt werden kann, ebenso hysterisch kann diese Nation bald darauf auch als bedrohte Gemeinschaft inszeniert werden. Gerade weil "wir" so offen, ironisch, vielfältig und international sind, bedürfen wir eines verstärkten Schutzes - das betonen die europäischen Innenminister jeden Tag. Und weil die Nation leer ist, mutieren die Gegner zu Zerrbildern des eigenen Ich-Ideals: Die Fundamentalisten da draußen sind verschlossen, todernst und monokulturell.
Man darf, man muss seine Nation ernst nehmen, ist die Devise, aber wer sie zu ernst nimmt, gilt als zurückgeblieben. Das tun gewöhnlich die Leute, die sich das Lokale oder Nationale als brand nicht leisten können, die kein Geld haben für Eintrittspreise und Merchandizing. Gerade in der Diaspora kann die Nation als kostenlose Ressource zur Aufwertung des eigenen Selbstbewusstseins dienen. So konnte der Autor dieses Textes gleich beim zweiten Spiel der Gruppe A ein Handgemenge zwischen Mädchen türkischer und portugiesischer Herkunft beobachten. Allerdings klaffen bei den einheimischen Deutschen Selbstbild und Realität auseinander - die Mehrheit ist kaum so ironisch, wie sie glaubt. Nach dem verlorenen WM-Halbfinale vor zwei Jahren wurde etwa die elfjährige Tochter einer italienischen Bekannten von Mitschülern geschlagen, weil sie sich eine Italien-Flagge auf die Wange gemalt hatte. Nach diesem Spiel schien der "alte" Nationalismus durchaus noch virulent.
Schließlich ist auch die Vielfalt innerhalb der Mannschaften keineswegs unproblematisch. Nachdem Lukas Podolski die "Polski" geputzt hatte, wurde seine verwandtschaftliche Verbundenheit mit Polen akzeptiert. Aber was, wenn "unsere Polen" (Bild) nicht treffen? Vor dem damaligen WM-Spiel gegen Polen wurde an den Theken und in den Umkleidekabinen unverhohlen die Frage nach der Loyalität von Podolski und Klose gestellt. Die Verbundenheit mit mehreren Orten ist alles andere als akzeptiert und "unsere Polen", wie es paternalistisch heißt, stehen durchaus unter höherem Leistungsdruck als einheimische Spieler. "Wenn ein Philipp Degen schlecht spielt, hat er einen schlechten Tag erwischt", meint in diesem Sinne auch der aus dem Kosovo stammende Schweizer Spieler Valon Behrami gegenüber dem Fußballmagazin 11 Freunde, "spiele ich schwach, wird die Charakterfrage gestellt". Bei den aus Brasilien stammenden Spielern in Diensten unterschiedlicher Nationalmannschaften dürfte der Druck noch höher sein. Die willkürliche Einbürgerung einer Person im "nationalen Interesse" ist ja an die Erbringung bestimmter Leistungen gekoppelt: In Schwächephasen ist dann schnell das Argument bei der Hand, jene Personen würden der Nation nicht nutzen, sondern sie ausnutzen.
Daher ist die Nation als Marke, Event und Geschäft manchmal nicht weniger stählern als die Nation als traditionelle Schicksalsgemeinschaft. Allerdings bietet ihre Neudefinition, wie sich in der EM und anderen Großereignissen exemplarisch zeigt, durchaus Chancen für eine ernstgemeinte Offenheit. Und weil die nationalen Eigenheiten real eine immer kleinere Rolle spielen, weil Effizienz und Mischung regieren, wird immerhin das Niveau des gezeigten Fußballs besser. Die griechische Mannschaft vielleicht mal ausgenommen.
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