Unser Feind ist die Flucht

DEN EIGENEN ORT NEU BESETZEN In seinem 1949 erschienenen Roman »Anfang und Ende« schildert Nagib Machfus die ägyptische Wirklichkeit jenseits von kolonialer Wahrnehmung

Seit Nagib Machfus den Nobelpreis bekommen hat, versucht die wohlmeinende deutschsprachige Kritik für ihn einen angemessenen Platz in der Literaturgeschichte zu finden. Gegen die eurozentristischen Kritiker, die Machfus als zu »traditionell« abtaten, betonte man wahlweise, er sei der Balzac, Zola, Dickens, Thomas Mann Ägyptens oder der »Vater des ägyptischen Romans«. Ob er nun als Reinkarnation oder verspäteter Patriarch oder vielleicht sogar als beides zusammen betrachtet wurde, in jedem Fall blieb es bei der Übertragung eines europäischen Standardmodells auf die Literatur der »Dritten Welt«. In den letzten Jahren hat sich im englischsprachigen Raum jedoch eine neue, eine »postkolonialistische« Sichtweise in der Literaturwissenschaft etabliert, mit deren Kategorien Nagib Machfus' kompliziertes Verhältnis zur europäischen Literaturtradition weitaus adäquater beschrieben werden kann. In seinem Buch Kultur und Imperialismus spricht Edward Said etwa von einer »voyage in«, welche die postkolonialen Schriftsteller angetreten hätten. Es handelt sich dabei um das Projekt einer Wiedereinschreibung: Die Künstler vermessen innerhalb der imperialen Kulturformen den eigenen Ort neu und besetzen ihn schließlich. Das erzählerische Werk des Nagib Machfus ist zweifelsohne eine solche »voyage in«.

Gewöhnlich gelten seine frühen, realistisch-sozialkritischen Romane lediglich als Vorbereitungsphase der zentralen, an Thomas Manns Buddenbrooks orientierten Kairoer Trilogie. Doch unter dem Aspekt der »voyage in« sind diese Romane vielleicht eine weit kühnere Leistung als die spätere Verfeinerung.

Das nun erstmals übersetzte Buch »Anfang und Ende« gehört zu jener frühen Periode - es erschien in Ägypten zum ersten Mal im Jahre 1949, zwei Jahre nach seinem Debüt Die Midaq-Gasse. Es spielt im Kairo der dreißiger Jahre. Seit 1919 hat die Kolonialmacht Großbritannien ihren langsamen Rückzug angetreten, doch die in der »Wafd»-Partei gut organisierten ägyptischen Nationalisten sind immer noch zu schwach, um die Unabhängigkeit durchzusetzen. 1936 beenden die Briten zwar offiziell die Besetzung, doch sie bleiben militärisch präsent. In »Anfang und Ende« eignet sich Machfus, der im halbkolonialen Ägypten jener Zeit in westlicher Philosophie ausgebildet wurde, die ästhetischen Darstellungsmittel der Europäer an, um das damalige ägyptische Leben jenseits von kolonialer Herrschaft und Wahrnehmung zu erzählen, um jene als Individuen zu schildern, die im unerschöpflichen Fundus der europäischen »Erzählungen« über die arabische Welt nur als Klischee auftauchten.

Wie gewöhnlich in Machfus' Romanen sind auch die Protagonisten von »Anfang und Ende« Kleinbürger. Doch hier geht es nicht um die saturierten Beamten der späteren Werke; am Beginn dieses Buches steht ein sozialer Abstieg. Die beiden Brüder Hassanein und Hussain werden in der Schule zum Direktor gerufen, um zu erfahren, dass ihr Vater gestorben ist. Der plötzliche Tod des kleinen Beamten stürzt die Familie in die Armut. Machfus schildert die schwierige Entwicklung der vier Kinder, alle bereits an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Hassan, der Erstgeborene, verliert mit dem Vater endgültig den Halt in der Bürgerlichkeit: Er wird zum Gauner. Den ernsten Hussain nimmt die sorgenvolle Mutter in die Pflicht; er begräbt seine Aufstiegsaspirationen und opfert sich für die Familie. Eindrucksvoll gezeichnet ist auch die Figur der Tochter Nafisa. Sie muss eine Arbeit als Näherin annehmen - im damaligen Ägypten für eine Frau aus besseren Verhältnissen eine Schande. So »freigesetzt« und zudem wenig attraktiv, lässt sie sich in ihrer Sehnsucht nach Heirat auf einen Mann ein, den sie zu Lebzeiten des Vaters zweifelsohne verschmäht hätte. Als dieser sie jedoch sitzenlässt, befriedigt die nun »ehrlose« Nafisa ihr Bedürfnis nach Liebe mit wechselnden Partnern, die sie in den Straßen aufliest.

Die Figuren bündeln sich in Hassanein, denn ihn hat die Familie auserkoren, Armut und Elend hinter sich zu lassen. Ihre ganze Solidarität gilt dem egoistischen Jungen, der seine Bedürfnisse zumeist unmittelbar durchsetzt. Tatsächlich gelingt Hassanein der Sprung auf ein Militärinstitut. Doch mit der Armut will Hassanein auch sein familäres Umfeld verlassen - zunehmend wendet er sich von seiner Familie ab, deren Solidarität seinen Aufstieg doch erst ermöglicht hat. Plötzlich schaut er die Welt, der er vor kurzem noch angehörte, mit dem Blick einer anderen Schicht an - sie wird ihm äußerlich. In einer dramatischen Szene beschreibt Machfus, wie die Kommilitonen sich über Hassaneins Verlobte lustig machen, nachdem sie die beiden beim Händchenhalten im Kino gesehen haben. Wo Hassanein sich am Ziel seiner Träume glaubte, wo er sich für einen tollen Verführer hielt, da sahen jene Anderen plötzlich nichts als einen »Bauerntrampel«.

Die große Leistung der Anverwandlung der europäischen Kulturformen lässt sich aus Machfus' frühen Romanen nach fünfzig Jahren nur noch schwerlich herauslesen - die heutige westliche Leserschaft ist zwar keineswegs frei von Klischeevorstellungen, aber zweifellos ist sie nicht mehr erstaunt über die Individualität der Bewohner Ägyptens. Gerade deshalb sollte die Kritik für die damalige Arbeit der Wiedereinschreibung sensibilisieren - und für den Akt des Widerstandes, der darin zum Ausdruck kommt. Machfus war und ist engagiert. »Bei uns«, lässt er in seinem gerade als Taschenbuch erschienenen autobiographischen Skizzen Echo meines Lebens seinen imaginären Mentor »Abd Rabbuh den Verlorenen« sagen, »dreht sich alles um die Liebe zur Welt, unser Feind ist die Flucht.« Doch auch ohne die Arbeit der Wiedereinschreibung zu berücksichtigen, wirken im Sinne der »Liebe zur Welt« die Beschreibungen der sozialen Nuancen in Anfang und Ende erstaunlich aktuell. Machfus verbleibt strikt in der Intimsphäre seiner Personen, doch gerade hier beobachtet er die feinen Unterschiede sehr genau - komplizierte und nicht entlang der üblichen Grenzen verlaufende soziale Ausdifferenzierungen. Anstatt Machfus daher den »Zola Ägyptens« zu nennen, wäre es gerade heute vielmehr an der Zeit für einen europäischen Machfus.

Nagib Machfus: Anfang und Ende. Roman. Aus dem Arabischen von Doris Kilias. Unionsverlag, Zürich 2000, 380 S., 39.- DM

Nagib Machfus: Echo meines Lebens. Aus dem Arabischen von Doris Kilias. Nachwort von Nadine Gordimer, Taschenbuch, Unionsverlag, Zürich 2000, 125 S., 16,90 DM

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