Zypern wird gelegentlich als "Friedhof der Diplomatie" bezeichnet, aber nach der Parlamentswahl im türkisch besetzten Teil der Insel vom Wochenende muss das nicht so bleiben. Es gibt ein Patt zwischen den pro-europäischen Parteien und dem bisherigen Regierungslager, das unter dem Patronat des nordzypriotischen Volksgruppenführers Rauf Denktasch sowohl einen EU-Beitritt wie auch die Wiedervereinigung mit dem griechischen Teil ablehnt.
Seit 30 Jahren müht sich die UNO vergebens, Zypern-Griechen (80 Prozent der Bevölkerung) und Zypern-Türken (20 Prozent) wieder in einem Staat zu vereinen - nun kann sie auf kleine Fortschritte hoffen, um die Folgen der 1974 durch eine türkische Invasion ausgelösten Spaltung der Insel zu überwinden.
Je näher man
Je näher man sich in den verschlungenen Gassen der Altstadt von Nikosia an die Green Line treiben lässt, die den griechischen vom türkischen Teil der Stadt trennt, desto mehr scheint die Zeit stillzustehen. Zwischen der belebten Fußgängerzone und dem Palast des Erzbischofs liegt die Welt der alten Männer. Mit ihren zerfurchten Gesichtern tischlern, besohlen und schmieden sie, als hätte es nie Fabriken gegeben. Dazwischen schieben sich immer wieder Häuser, die langsam verfallen: Einst haben sie türkischen Zyprioten gehört - und bis jetzt hält die griechische Regierung zumindest theoretisch den Rückweg offen. Alle Straßen dieses Areals enden an einer Barriere aus Stacheldraht, Tonnen und Brettern, die mit der griechischen Fahne bemalt sind und von gelangweilten Soldaten bewacht werden. Möglicherweise rührt die so seltsam entrückte wie konservierte Atmosphäre vom Sog jenes Niemandslandes, das dahinter liegt. In der Lidras, der größten Geschäftsstraße, ballen sich wenige Meter davor noch Restaurants und Kafenions - dann reißt plötzlich alles ab. Dahinter, in der Ermou-Straße, kam seinerzeit die türkische Invasion gegen den zypriotischen Staat zum Stehen, nun bezeugt die Straße eingefrorenes urbanes Leben. Ein tiefer Schnitt im Gewebe der Stadt. Was hier noch lebt, ist das Unkraut. Auf der griechischen Seite dringt hingegen das wuchernde moderne Nikosia von außerhalb der venezianischen Stadtmauern immer mehr in die Welt der alten Männer ein: Plötzlich steht da irgendwo zwischen den Handwerksbetrieben ein brandneues Restaurant oder Café. Und in Wirklichkeit sind die alten Männer gar nicht so antiquiert, wie es den Anschein hat, denn das klein- und mittelständische Gewerbe dominiert die Wirtschaft der Insel. Und Zypern ist vergleichsweise reich - zumindest sein griechischer Teil. Das grenzt an ein Wunder, denn als 1974 die Türkei den Norden an sich band, lagen dort zwei Drittel der Rohstoffe, der Agrarproduktion, der Industrie und touristischen Infrastruktur. Wenn man heute die Green Line vom griechischen in den türkischen Teil der Insel überschreitet - vorbei am ehedem luxuriösen Ledra Palace Hotel, das von den Blauhelmen der UNO bewohnt wird -, wirkt es, als käme man von der Ersten in die Dritte Welt.Paradiesruinen in FamagustaDer Grenzverkehr ist mittlerweile ziemlich rege. Am Morgen strömen Kolonnen türkischer Tagelöhner in den griechischen Süden, der Arbeitskräfte braucht. In Limassol etwa, der zweitgrößten Stadt, gehört am Sonntagmorgen, wenn die Einheimischen noch schlafen, die katholische Kirche den zahlreichen Migranten von den Philippinen, aus Bangladesch oder Pakistan. Für diese Einwanderer ist die griechische Inselregierung gelegentlich sogar bereit, auf hehre Prinzipien zu verzichten. Jüngst wurde eine pakistanische Familie festgenommen, als sie am Ledra Palace vom Norden in den Süden wollte. Man muss dazu wissen, dass die "Türkische Republik Nordzypern" weiterhin als besetztes Gebiet gilt und weltweit nur von zwei Regierungen anerkannt wird. Insofern ist die Green Line keine Grenze. Wer also aus dem Norden kommt und erklärt, im türkischen Teil zypriotischen Boden betreten zu haben, kann wegen illegaler Einreise zur Rechenschaft gezogen werden. Wenn Touristen vom Süden in den Norden gehen, wird ihnen daher eingeschärft, spätestens um Mitternacht zurückzukehren - und: Shoppen verboten! Eine Genehmigung, mehrere Tage im Norden zu bleiben, wird notorisch verweigert. Selbstverständlich hält sich niemand daran, deutsche Touristen etwa, die Häuser in Kerynia (Nordzypern) besitzen, landen regelmäßig in Larnaka. Da die Grenzbeamten dort keine Namen notieren, überquert man morgens die Grenze und zwei Wochen später am Abend, wenn die Kontrollen nachlassen, erneut. Auch die griechischen Zyprioten fahren regelmäßig nach drüben. Einmal, um das Haus zu betrauern, das ihnen früher gehört hat und in dem heute Festlandtürken residieren, ein anderes Mal, um einen ausgedehnten Sonntagsausflug mit der Familie zu unternehmen und im Casino eines luxuriöseren Hotels ihr Geld zu verspielen - gleich neben türkischen Besuchern vom Festland, die Gleiches tun.Christophoros in Limassol, ein Bodybuildingtrainer, der zugleich Appartements vermietet, findet das Ganze ziemlich verlogen. "Wir waren doch alle schon für ein paar Tage drüben - aber unsere Regierung sagt immer noch: das ist illegal". Er will eine gewisse Bewunderung für Rauf Denktash, den abgebrühten Führer der türkischen Zyprioten, nicht verhehlen. "Wir waren da in einem wirklich exquisiten Hotel etwas außerhalb von Kerynia - und wem hat es gehört? Einem Verwandten von Denktash. Der hat seine Familie versorgt". Auch wenn sich die Entourage dieses Präsidenten gut bedient hat, ansonsten kann von Luxus im Norden keine Rede sein. Das Militär ist omnipräsent, die besten Grundstücke sind nicht mit spärlich bekleideten Touristen besetzt, sondern mit jungen, uniformierten Männern. Besonders absurd wirkt das im ehemals größten Hafen der Insel - in Famagusta. Zwar ist die Altstadt innerhalb der imposanten Festungsmauern wieder voll urbanen Lebens, doch die Hotelstadt Varosha und die dahinter liegende Villengegend sind noch immer militärisches Sperrgebiet. Vom westlichen Stadtstrand Famagustas aus kann man zumindest hinüberschwimmen in die gespenstische Ruhe der seit 30 Jahren verrottenden Bauten. Der Strand ist ohnehin ein Ort, wie es ihn in Europa sonst wahrscheinlich nur noch in Bosnien zu sehen gibt: Man badet vor der Kulisse jener Hotels, die seinerzeit von den türkischen Landungstruppen zerschossen wurden. Die Touristen aus dem Ausland scheint das wenig zu stören: Vor dem mit fünf Sternen versehenen Palm Beach genießen sie die Sonne, als hätte der Krieg hier keinerlei Spuren hinterlassen, die Atmosphäre entfaltet ihren bizarren Charme.Kemal Atatürk in jedem DorfSeit einigen Jahren hat sich der Tourismus auch im Norden leicht erholt - zumal in Kerynia. Die einstigen Kolonialherrn aus Britannien erwerben an der Küste im großen Stil Land und Häuser. Man kann sich pauschal einkaufen oder -mieten, obwohl die "Türkische Republik Nordzypern" völkerrechtlich illegal ist. Dabei sollte der Besucher die Augen zuweilen fest geschlossen halten, denn noch im kleinsten Dorf haben die Türken ihre Atatürk-Statuen platziert und überall erinnern Denkmäler, deren bombastische Offensichtlichkeit jeder Beschreibung spottet, an die "Friedensoperation" von 1974. Byzantinische Kirchen schimmeln entweder vor sich hin oder wurden brachial mit Minaretten versehen. Auch beklagen Archäologen, wie schmählich antike Stätten behandelt werden - in Famagusta lagert in den Überresten des venezianischen Palastes der Müll.Das hindert die türkische Tourismusindustrie nicht daran, nach 30 Jahren Boykott, Verfall und subventionierter Misswirtschaft zynischerweise mit der "Ursprünglichkeit des Nordens" zu renommieren. Auf einer Karte der Halbinsel Karpasia sind kleine Eselsymbole eingezeichnet - ein Verweis auf Horden wilder Tiere. Der Besitzer meines Hotels, ein älterer türkischer Zypriot, gibt bereitwillig Auskunft: Die Esel gehörten einst Griechen und seien nun verwildert, seit die Leute von der türkischen Armee vertrieben wurden. Er besteht darauf, die Truppen damals, sie hätten den Frieden auf die Insel gebracht. Und was wird bei einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union? Nein, noch einmal "vermischen" will sich der Hotelier auf keinen Fall.So denken auf türkischer Seite, wie jetzt die Wahlen gezeigt haben, nicht mehr übermäßig viele, dafür geht es den meisten zu schlecht, besonders jenen Festlandtürken, die nach der Besetzung auf die Insel geholt wurden, um griechische Arbeitskräfte zu ersetzen - auf Karpasia leben viele von ihnen als Bauern am Rande des Existenzminimums. Schon früh hat sich Fazil Kücük - einer der wichtigsten Nationalistenführer, der stets die Teilung der Insel und daher auch die Invasion wollte - über die importierten Türken beklagt. Die oftmals nicht aus bestem Hause stammenden Kolonisten seien ein "Ärgernis" für die alteingesessenen "anständigen Bürger". Besonders deutlich wird das gestörte Verhältnis ausgerechnet im Dorf Rizokarpaso, wo es noch etliche griechische Zyprioten gibt. Die sitzen nachmittags in einer mit griechischen Lettern ausgewiesenen Cafeteria, die einem türkischen Zyprioten gehört, beim ausgedehnten Mittagessen. Der Jack Daniels fließt in Strömen. Den Griechen hier geht´s gut - die meisten sind ohnehin Rentner, alle werden vom Süden subventioniert. Ab und an schauen ältere türkische Zyprioten herein, werden herzlich begrüßt und bleiben. Unterdessen schleichen vor dem Fenster die fremd wirkenden, ärmlich gekleideten Migranten vom Festland vorbei, deren Leben eine einzige Plackerei ist.Menetekel einer TragödieZypern ist bereit für die EU, aber was die Insel vor allem braucht, das ist ein demokratisches Gemeinwesen, in dem die völkischen Auffassungen beider Seiten keinen Platz mehr beanspruchen können. Lange genug haben die Hardliner verschiedener Provenienz und die zynischen Interessen äußerer Mächte das Geschehen diktiert. Und die Europäer haben zugesehen. Letztlich war Zypern schon 1974 eine Art Menetekel für die jugoslawische Tragödie 20 Jahre später. Insofern wäre die Insel der exemplarische Ort, an dem die Europäische Union zeigen könnte, dass sie keine Konfliktparteien mehr unterstützt, die auf die ethnische Karte setzen. Stattdessen aber leuchten in den Reise-Katalogen die Strände auf beiden Seiten der Insel, als gäbe es keine Teilung.Das geteilte ZypernJuli 1974 - Sturz von Erzbischof Makarios, des zypriotischen Staatschefs, als die damalige griechische Militärregierung die ENOSIS (Anschluss an Griechenland) zu vollziehen versucht. Die Türkei nimmt den Umsturz zum Anlass einer Invasion und besetzt den nördlichen Teil der Insel, über 200.000 griechische Zyprioten werden von dort vertrieben.Dezember 1974 - Rückkehr von Makarios in den griechischen Teil Zyperns, Wiederaufnahme der Amtsgeschäfte.Februar 1975 - Beginn der Genfer Friedensverhandlungen, die jedoch bald scheitern, als Makarios den Plan verwirft, zwei Teilstaaten mit einer mehr symbolischen Zentralregierung zu schaffen.November 1983 - der Separatstaat im Norden proklamiert die "Türkische Republik Nordzypern", die international nicht anerkannt wird. Ihr Präsident heißt von Anfang an Rauf Denktasch.Dezember 1984 - erneute Verhandlungsrunde unter UN-Schirmherrschaft, die ebenfalls ergebnislos bleibt.Oktober 1991 - auf Initiative von US-Präsident George Bush verabschiedet der UN-Sicherheitsrat eine Resolution, wonach der Zypern-Dialog unter Teilnahme aller vier Verhandlungsparteien - der beiden Volksgemeinschaften, der Türkei und Griechenlands - wieder belebt werden soll.März 1994 - UN-Generalsekretär Boutros Ghali legt beiden Seiten einen Verhandlungsvorschlag mit 14 vertrauensbildenden Maßnahmen vor, gedacht ist unter anderem an die Wiedereröffnung des 1974 geschlossenen internationalen Flughafens von Nikosia und die Freigabe eines Teils der Hafenstadt Famagusta im Norden. Während die Griechen akzeptieren, lehnen die Türken ab.März 1998 - die EU-Außenminister beschließen trotz türkischer Proteste die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der (griechischen) Republik Zypern.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.