Zwanzig Jahre Rostock-Lichtenhagen, das Gedenken ist vorüber. Im Gegensatz zu damals wurde tatsächlich nichts mehr beschönigt. Zuletzt war es der Bundespräsident, der eindeutige Worte fand – für das Verhalten von Tätern, Unterstützern, Panikmachern sowie von Polizei und Behörden. Dennoch bleibt ein schales Gefühl. Joachim Gauck stammt aus Rostock, und so bezeichnete er die Ausschreitungen folgerichtig als „Brandmal“ für die Stadt. Warum aber ging es nicht auch um jenes „Brandmal“, dass die Pogromstimmung jener Jahre in den Köpfen der Einwanderer hinterlassen hat? Rostock war ja keine Ausnahme, sondern lag auf dem Weg von Hoyerswerda nach Solingen. In jener Zeit gab es fast jeden Tag neue Nachrichten über Attacken auf „Ausländer“. Ich habe die frühen neunziger Jahre als die bleiernste Zeit in meinem Leben in Erinnerung. Und ich war nicht der einzige, der damals begonnen hat, sich mit Rassismus, der Einwanderungsgesellschaft und auch den Erfahrungen zu beschäftigen, die man selbst als Person mit Migrationshintergrund gemacht hatte. Allerdings sind seither 20 Jahre vergangen. Wir sind weitergekommen. Joachim Gauck hat – tatsächlich sogar mit der Wortwahl jener Tage – letztlich die Rede gehalten, die man 1992 erwartet hätte und für die kein Politiker in gehobener Position den Mut aufbrachte. Heute ist eine solche Rede nicht mehr wirklich mutig.
Mutig wäre es gewesen, anstatt moralisch auch politisch zu argumentieren und etwas zur Zukunft der Einwanderungsgesellschaft zu sagen. Joachim Gauck hat zu „uns“ gesprochen, aber an seiner Wortwahl ist zu erkennen, dass sein „Wir“ recht traditionell bleibt: Es gibt „uns“, die „Einheimischen“, und die „Fremden“, die „bei uns Aufnahme gefunden haben“. 1992 jedoch waren die „Fremden“ längst Bestandteil der deutschen Gesellschaft, und heute sind sie es noch mehr. Obwohl mit Ngyuyen Do Tinh ein damaliges Opfer und ein Vertreter der vietnamesischen Selbstorganisation bei dem Gedenken anwesend war und auch angesprochen wurde, fehlt dem neuen Bundespräsidenten das Gefühl für die unterschiedlichen Perspektiven.
"Wir"-Botschaft statt Pathos
Eben das unterschied Christian Wulff von allen bisherigen Spitzenpolitikern und machte ihn so beliebt bei vielen Menschen mit Migrationshintergrund: Wenn er von „Wir“ sprach, konnten sich wirklich alle angesprochen fühlen. Wulffs Rede am 3. Oktober 2010 hatte auch wenig moralisches Pathos – da gab es klare politische Aussagen. Da war nicht die Rede von Miteinander und Respekt, sondern Wulff sandte Botschaften aus: Ich bin der Präsident alle Einwohner. Oder: Der Islam gehört zu Deutschland.
Wenn es um Gewalt und Rechtsextremismus geht, dominiert in der Bundesrepublik weiter die moralische Sichtweise. Die Mordserie des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds hat aber die Frage nach dem strukturellen Rassismus aufgeworfen. Die NSU ist das Ergebnis der Versäumnisse der neunziger Jahre. Die windelweichen Reaktionen auf die damaligen Ausschreitungen und die Herausbildung rechtsextremer Subkulturen haben diese Art von Radikalisierung ermöglicht. Im Verhalten von Politik und Sicherheitsbehörden zeigen sich Routinen von Verharmlosung und Falschermittlung. Aber was sind die Konsequenzen? Wird nicht Extremismus weiterhin bagatellisiert? Jüngst hat die Antonio-Amadeu-Stiftung vom „Kartell der Verharmloser“ gesprochen. Werden nicht antifaschistische Initiativen weiterhin kriminalisiert, obwohl sie jederzeit besser informiert sind über das rechtsradikale Spektrum als der Verfassungsschutz und oftmals mehr zur Verhinderung von Nazi-Aufmärschen getan haben als die sogenannte Bürgergesellschaft? Und was unternimmt etwa die Polizei institutionell gegen ihr Ermittlungsversagen, in dem die Opfer zu Verdächtigen gemacht wurden? Eine Mordserie unter „Ausländern“ – das schien ganz selbstverständlich ein Fall von „Ausländerkriminalität“ sein.
Was heißt Vielheit eigentlich genau?
Über all das wurde in Rostock-Lichtenhagen nur am Rande gesprochen. Gauck hat das „Miteinander der unterschiedlichen Vielen“ und die Zukunft beschworen, ohne Auskunft zu geben, wie er sich die Gestaltung der Vielheit genau vorstellt. Er betonte lediglich, „unser Land“ sei ein Einwanderungsland geworden. Und er sagte, „dass wir uns aber über das Maß und die Bedingungen der Zuwanderung verständigen“ müssen, damit „wir die Zuwanderer nicht vor allem als Problem empfinden, sondern als Menschen, deren Anwesenheit zu unserem gemeinsamen Wohl beiträgt“. Gauck suggeriert damit dem „Wir“, es habe weiterhin die Kontrolle. Aber wenn heute bei den Unter-Sechsjährigen in den deutschen Städten die Kinder mit Migrationshintergrund in der Mehrheit sind, dann sind Debatten über „Maß und Bedingungen“ müßig. Und was soll mit jenen Einwanderern geschehen, die – menschlich allzumenschlich – nicht nur zu „unserem Wohl“ beitragen? Steht deren Anwesenheit zur Disposition? Das war letztlich die Folge von Lichtenhagen – die Änderung des Asylparagrafen, die Beendigung von Aufenthalten.
Der neue Tonfall des Bundespräsidenten ist von vielen Personen mit Migrationshintergrund vernommen worden. Die Tür, die von Christian Wulff aufgestoßen wurde, hat sich wieder ein wenig geschlossen.
Mark Terkessidis ist Journalist, Autor und Migrationsforscher in Köln und Berlin
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