Ein Maß für die Lebendigkeit einer Großstadt ist zweifellos die Vielfalt ihres kulturellen Angebots. Je mehr Theateraufführungen, Ausstellungen, Literatursalons, Musiklabels, Fernsehstudios, Werbeagenturen oder Interface-Designbüros, je mehr "Kreativität" um einen herum, desto attraktiver erscheint der Alltag in einer Stadt. Zudem gilt die Kulturwirtschaft als Zukunftsbranche - noch vor ein paar Jahren wirkte etwa das Label der "Medienstadt" bereits wie der Vorschein eines goldenen Zeitalters. Auch wenn man unterdessen etwas realistischer geworden ist, haben die Tätigkeiten im Bereich der Kultur nichts von ihrer Aura verloren. Da etwa Berlin heute nicht nur die Hauptstadt der neuen Bundesrepublik ist, sondern auch ihr "kreatives" Zentrum, setzt sich auch der Zuzug von jenen fort, die ihre Zukunft in diesem Bereich sehen.
Wenn man nun Kultur hauptsächlich konsumiert, dann fällt der Schauplatz eines Dramas hinter den Kulissen möglicherweise gar nicht auf. Denn dort findet das Theater der Prekarität statt - dort kann man sich die Arbeitsbedingungen der Zukunft anschauen, über die am traditionellen "Tag der Arbeit" bislang nur selten gesprochen wird. In jüngster Zeit wurde der Begriff Prekarität hierzulande im Zusammenhang mit den absoluten Verlierern der Gesellschaft verwendet - in einem Bericht der Friedrich-Ebert Stiftung tauchte der seltsame Ausdruck des "abgehängten Prekariats" auf. International freilich war "Prekariat" schon seit geraumer Zeit als eine Art Sammelbezeichnung verbreitet für all jene Personen, deren Beschäftigungsverhältnisse kaum noch Stabilität aufweisen, die also unsicher in jeder Beziehung sind - ohne Schutz vor Entlassung, ohne soziale Absicherung, ohne berechenbare Perspektive, ohne die Garantie einer existenzsichernden Bezahlung. In den Büchern von Michael Hardt und Antonio Negri bildete diese neue Schicht von flexiblen, mobilen und eben prekären Arbeitskräften sogar eine der Grundlagen für die Entstehung der "lebendigen Alternative" zum "Empire", der "Multitude".
Diese Art von "Prekarität" betrifft nun keineswegs nur Menschen am untern Rand der Gesellschaft, im traditionellen Segment der unqualifizierten Arbeit etwa, sondern eben auch jene im Bereich der Kulturwirtschaft - einem ausgezeichneten Feld der sogenannten immateriellen Arbeit, einer Arbeit, die nicht mehr um die Herstellung von Gegenständen, sondern um Wissen, Information, Kommunikation oder Beziehungen kreist. Auch darüber ist in Deutschland bereits gesprochen worden, aber unter dem Gesichtspunkt der "Generation Praktikum". Tatsächlich geht es aber um weit mehr als um unterbezahlte Praktika. Es geht um alle möglichen Formen von prekären Jobs, deren Existenz im übrigen auch für den reinen Konsumenten von Kultur indirekt spürbar ist. Denn bekanntlich ist die staatliche Förderung für den Bereich der Kultur massiv gekürzt worden und häufig fließt die Unterstützung fast gänzlich in die Infrastruktur - irgendwo zwischen Gebäudesanierung und Bühnenbau. Dennoch wird das kulturelle Angebot nicht weniger, gefühlt sogar deutlich mehr. Also: Wie wird "Kreativität" eigentlich finanziert?
Zwei Beispiele mögen das illustrieren. Paul hat zuletzt für die "Zwischennutzung" eines größeren Gebäudes gearbeitet, das danach abgerissen wurde. Er war zuständig für das musikalische Programm und hat ohne besondere Qualifikation in diesem Bereich allein das gesamte Booking übernommen. Zunächst war Paul sehr stolz darauf, dass er die Verantwortung für so einen wichtigen Bestanteil des Programms übernehmen durfte, doch schnell wuchs ihm die Sache über den Kopf. Bald verbrachte er Tag und Nacht in seinem Büro. Gegessen wurde schlecht, geschlafen wenig und unruhig, die Treffen mit Freunden gingen auf Null zurück. Dafür sah er anderen Mitarbeiter des Projektes fast ununterbrochen. Die waren ebenso überfordert wie Paul, denn eigentlich arbeiteten viel zu wenig Leute an diesem Riesenprojekt. In einem solchen quasifamiliären Zusammenhang bürdete jeder Arbeitsausfall den anderen Personen noch mehr Arbeit auf, wodurch der Druck wuchs, die anderen nicht im Stich zu lassen. Krankheitsbedingte Fehlzeiten waren für Paul ein Relikt aus den Tagen des "Arbeitnehmers". Während jener Zeit lag sein Einkommen bei 1.000 Euro auf Honorarbasis.
Karin hat vor einiger Zeit als Volontärin bei einer kleinen Produktionsfirma angeheuert - Fernsehen. Von Anfang an hat Karin verantwortlich gearbeitet. Mittlerweile konzipiert und schneidet sie Sendungen und Beiträge im Akkord, weil ihre Chefs willentlich zu viele Aufträge annehmen. Ihre Arbeitszeit beträgt etwa 60 Stunden in der Woche, ihre Entlohnung liegt bei 600 Euro brutto. Zwar findet Karin ihre Situation unerträglich, doch zugleich weiß sie nicht, wie sie sich wehren soll. Sie muss ja ihr Volontariat zuende bringen, glaubt sie, und darüber hinaus kennt sie Geschichten von Leuten, die von ihren Chefs aufgrund ihres Widerstand gegen die Arbeitsbedingungen gemobbt wurden. Karin hält also durch. Und hofft auf bessere Zeiten, ebenso wie Paul im übrigen. Beide glauben, dass sich ihre jeweiligen Tätigkeiten bei der nächsten Bewerbung auszahlen werden - als Aktivposten der "Erfahrung" auf dem Curriculum Vitae. Doch zumindest bei Paul setzt sich langsam die Einsicht durch, dass er bei jedem Projekt im Grunde von vorn anfängt.
Nun fragt man sich: Karin und Paul haben beide ein abgeschlossenes Hochschulstudium in geisteswissenschaftlichen Fächern, warum lassen sie sich auf solche Arbeitsbedingungen ein? Immerhin gibt es doch einige Möglichkeiten, gegen solche Arbeitsverhältnisse anzugehen - gerade dann, wenn man bereits drinsteckt und durchaus nicht sofort ersetzt werden kann. Es gibt sicher viele Gründe, aber die drei wichtigsten sind Angst, finanzielle Unterstützung durch die Familie und der Mythos der Kultur. Die Angst ist ein konstitutiver Bestandteil der Prekarisierung. Das Studium in den Geisteswissenschaften in Deutschland ist höchst akademisch und überhaupt nicht berufsvorbereitend. Das entlässt die Absolventen mit dem Gefühl, dass sie nichts können. Sie haben Angst vor den kommenden Aufgaben. Und diese Angst setzt sich fort, denn ein Element der Prekarisierung ist ja die Kurzfristigkeit der Arbeitsaufgaben beziehungsweise der Beschäftigungsverhältnisse. Bei jedem neuen Projekt beginnt man wie erwähnt praktisch wieder bei Null.
Zudem haben Leute wie Paul und Karin Angst, dass es ein nächstes Projekt einfach nicht geben wird und dass man plötzlich "herausfällt", in die Welt der Anti-Struktur. In eine Welt, in der man plötzlich die Zeit nicht mehr strukturieren kann, nur noch herumhängt in einem depressiven Zustand der mangelnden Kreativität und am Ende schließlich nicht einmal mehr das Selbstbewusstsein aufbringt für eine Bewerbung, die ja sagen muss: Seht her, ich bin es, ausgerechnet mich braucht ihr. Daraus kann schnell die Angst werden, am Ende zu den "Überflüssigen" zu gehören und nur noch einen fremden Namen und eine Nummer zu tragen: Hartz IV.
Schließlich haben sie auch Angst vor den Anderen, die genauso sind wie sie selbst. Sie haben das Gefühl, dass hinter ihnen eine ganze Armee von Prekären steht, die sofort mit Kusshand den eigenen Job übernehmen würden. Und so lassen sie sich immer weiter herunterhandeln. Das erhöht wiederum den Druck auf alle Anderen. Da sie nicht mutig genug sind, für ihre Sache einzustehen oder sich zusammen mit anderen zu organisieren, werden sie zu ihrem eigenen Alptraum: Zu Personen, die ihre eigene Existenz gefährden.
Tatsächlich können viele Prekäre von ihrem regulären Einkommen nicht leben. Dass dies möglich ist, dafür sorgt die Unterstützung durch die Familie. Eine Untersuchung des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung über Die Bedeutung der Kulturwirtschaft für den Wirtschaftsstandort Pankow in Berlin, zu dem auch der Stadtteil "Mitte" gehört, zeigt, dass Karin und Paul keine Einzelfälle sind. Insgesamt erweisen sich ein Drittel der Jobs als nicht existenzsichernd - dabei sind es im Bereich der Darstellenden Kunst 85 Prozent der Tätigkeiten und im Bereich Software "nur" 25 Prozent. Die Untersuchung belegt auch, dass die Finanzierung solcher nicht existenzsichernden Arbeitsverhältnisse zum überwiegenden Teil von der Familie geleistet wird.
Nun stammen die meisten Prekären in der Kulturwirtschaft aus Mittelschichtsfamilien. Obwohl klar sein müsste, dass Kultur unterdessen ein Handelsgut ist wie jedes andere auch, hat der Ausdruck Kultur in diesen Kreisen weiterhin einen mythischen Klang. Zum einen ist man stolz darauf, dass die Tochter oder der Sohn "am Theater" oder "beim Fernsehen" sind und man hört gerne die Geschichten aus den Backstage-Räumen der Kulturszenerie. Zum anderen weiß man, dass "Kreativität" seinen Preis hat, dass also künstlerische Tätigkeiten sich nicht gleich auszahlen. In diesem Sinne gilt der finanzielle Zuschuss als Investition in die Zukunft. Und genau so sehen die Kinder es auch. Das Leben im Prekären soll nur vorübergehend sein - und oft ist das auch noch so in der Bundesrepublik. Allerdings wird die Prekarität häufig dadurch beendet, dass man in eine andere Branche wechselt.
Während man in anderen Bereichen den "Kombilohn" diskutiert, ist in der Kulturwirtschaft eine Form der privaten Subventionierung längst Realität. Davon profitieren Staat und Unternehmen. Der Staat kann sich aus der Kulturförderung zurückziehen, ohne mit größeren Einbußen im kulturellen Leben rechnen zu müssen. Die Unternehmen wiederum verlegen durch "Outsourcing" immer mehr sozialversicherungspflichtige Jobs in schlecht bezahltes Kleinstunternehmertum, in dem prekäre Beschäftigung an der Tagesordnung ist. Und so ist in der Kulturwirtschaft dafür gesorgt, dass man jederzeit sagen kann: Es ist einfach kein Geld da.
Die "Krise" der Kulturwirtschaft befördert also die "Kreativität". Trotz Aufschwung wird daher weder beim Staat noch bei den großen Unternehmen ein Bedürfnis nach stabileren Verhältnissen aufkommen. Allerdings besteht das Prekariat im Kulturbereich keineswegs aus den "Verlierern" der Gesellschaft und am "Tag der Arbeit" wäre es sinnvoll, jenseits romantischer Vorstellungen von der "Multitude" über Organisationsformen für die Vertretung der eigenen Interessen nachzudenken - anstatt so dankbar für Kulturarbeit zu sein, dass man sogar die Familie dafür bezahlen lässt.
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