Zwischenspiel in Marseille

Kulturreportage Sie waren alle da, von Benjamin bis Hessel: Marseille bewahrt eine der letzten Momentaufnahmen der europäischen Intelligenz vor Auschwitz

Die alte kosmopolitisch-„phö­nizische“ Hafenstadt wirkt verschlafen, ist noch nicht herausgeputzt für die Touristen im Sommer. Am Vieux Port bieten einige Fischer ihren frischen Fang an, der kleine Markt in den Gassen hinter dem Boulevard Canebière erinnert an einen orientalischen Basar.

Den Galeristen und Autor Alain Paire aus dem nahen Aix-en-Provence trifft man in der gut ausgestatteten Buchhandlung L’odeur du temps am Vieux Port. Er ist auf dem Weg in die Bibliothek und hat Zeit für ein Essen in der gegenüberliegenden Trattoria, ich möchte mit ihm über den Maler Jacques Hérold und das Marseille von 1940/41 sprechen. Paire hat eine große Studie über die bedeutende Zeitschrift Cahiers du Sud geschrieben, die in Marseille von Jean Ballard nach dem Ersten Weltkrieg bis 1966 herausgegeben wurde. Der Galerist ist einer der wenigen, die sich außerhalb der Universitäten vernehmbar mit der Situation nach der französischen Niederlage von 1940 beschäftigten, als in einem großen, chaotischen Exodus Tausende aus dem von den deutschen Truppen besetzten Nordteil nach Süden flüchteten und Marseille zum einzigartigen, düsteren Schauplatz des Überlebenskampfes der von den Nazis bedrohten Kultur machten.

Die flüchtenden Künstler – politisch exponierte französische Surrealisten ebenso wie zahlreiche aus Deutschland Exilierte – trafen an der Küste auf Kollegen, etwa in der deutschen Kolonie in Sanary-sur-Mer, dem „Weimar an der Côte“. Wer Deutscher war, wurde in der Regel vom Vichy-Frankreich, das mit dem Hitler-Regime kooperierte, in Lagern wie Gurs, Le Vernet und Les Milles (im nahen Aix-en-Provence) interniert – und suchte verzweifelt aus dieser Falle zu entkommen. „Es gab in Europa bald nur noch zwei Tore: Marseille und Auschwitz“, sagt Paire.

Jedes Hotel, jeder Platz

Auch Walter Benjamin fand in der Hitze des Sommers 1940 den Weg in die enge Rue Grignan Nr. 60, wo das neue Büro des „Centre Américain de Secours“ (CAS) zahlreichen Flüchtlingen Hoffnung auf Rettung bot. Es wurde vom Amerikaner Varian Fry geleitet; in der schmalen, vornehmen Straße mit ihren teuren Geschäften ist eine schwarze Erinnerungstafel für ihn und sein CAS angebracht. Über tausend Flüchtlinge aus dem künstlerischen und intellektuellen Milieu Europas kamen durch das Büro zu Visapapieren, Ausreisegenehmigungen, „sauf conduits“ oder Identitätskarten und damit in vielen Fällen zur Ausreise in die letzten verbliebenen, oft exotischen Aufnahmeländer. Ungezählte Dramen der Emigration und der Flucht spielten sich in diesem alten Marseiller Hafenviertel ab. Hier in den engen Straßen mit so schönen Namen wie „Paradis“, „Sainte“, „de Rome“ ließe sich eine „letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz“ (so der Untertitel zu Walter Benjamins berühmtem Surrealismus-Aufsatz) machen. Hier, wo jede Ecke, jedes Hotel, jeder Platz, jedes Café eine reiche und tragische Geschichte erzählen kann, kreuzten sich die Wege so vieler Künstler, Politiker und Intellektueller, dass selbst eine nur auswählende Aufzählung einen leichten Schwindel bei jedem Biografen verursachen kann:

Artaud, Antonin französischer Schriftsteller, Schauspieler, Bühnentheoretiker, Konzeption des „Theater der Grausamkeit“

Adamov, Arthur französischer Dramatiker, Schrift­steller, wichtigster Autor des Absurden Theaters

Arendt, Hannah jüdisch-deutsche Publizistin (u. a. The Origins of Totalitarianism, USA 1951)

Brauner, Victor rumanäisch-französischer Maler, Surrealist

Breton, André französischer Dichter und wichtigster Theoretiker des Surrealismus

Ernst, Max dadaistischer Maler, Grafiker, Bildhauer Hérold, Jacques rumänischer surrealistischer Maler, Grafiker und Bildhauer, ging 1930 nach Paris, wo er für den Bildhauer und Foto­grafen Brâncuşi arbeitete

Koffler, Camilla (Ylla) weltberühmte Tierfotografin aus Ungarn

Lam, Wifredo kubanischer surrealistischer Maler (Kreis von Breton, Picasso) u. a. afrikanischer Geister

Lévi-Strauss, Claude französischer Ethnologe und Anthropologe, Begründer des ethnologischen Strukturalismus

Lipchitz, Jacques französisch- US-amerikanischer Bildhauer

Marcu, Valeriu rumänischer Schriftsteller und Historiker

Masson, André französischer Grafiker, Maler, Bildhauer, enger Freund von Georges Bataille

Ophüls, Max eigentl. Oppen- heimer, deutsch-französischer Schauspieler, Theater-, Hörfunk- und Filmregisseur (Liebelei, nach Schnitzler, 1933)

Sahl, Hans Kulturkritiker der Weimarer Republik, antifaschistischer Schrift­steller, Vertreter der deutschen Exilliteratur

Serge, Victor russischer Dichter und Revolutionär

Tzara, Tristan rumänischer Schriftsteller, Mitbegründer des Dadaismus

Weil, Simone französische Philosophin, Kritikerin des Marxismus

Werfel, Franz jüdischer expressionistischer Lyriker, Schriftsteller (Das Lied von Bernadette USA 1941) und Dramatiker


Villa Air-Bel

Alain Paire erinnert daran, dass Walter Benjamin, der Marseille seit 1926 kannte, 14 Jahre später kaum noch sein billiges Hotel Continental verlies.Aber wie viele andere besuchte auch Benjamin das Büro der Cahiers du Sud. Auf der Canebière traf er Arthur Koestler, im Viertel um den Hafen Hannah Arendt, Siegfried Kracauer, Helen und Stéphane Hessel ...

Welche Konstellationen in Marseille möglich waren, macht das wenig beachtete Beispiel der Rumänen deutlich, die aus ihrer zunehmend antisemitischer und rechtsextremer werdenden Heimat emigrierten. In der Rue Grignan steht das alte Musée Cantini mit seinen reichen Beständen zur Avantgarde. Es richtete zur Erinnerung an den 100. Geburtstag von Jacques Hérold (1910-1987) die erste große Retro­spektive des surrealistischen Malers aus, Werke von ihm findet man auch in der ständigen Ausstellung. Hérold, der eigentlich Herold Blumer hieß, stammte wie der surrealistische Maler Victor Brauner aus Piatra-Neamţ, seine Kindheit verbrachte er in den jüdischen Kleinstädten der rumänischen Moldau, wo auch Moineşti liegt, Geburtsort des Dadaisten Tristan Tzara. Hérold war 1930 nach Paris gekommen; in den Zirkeln der Bohème entwickelte er einen Malstil, der ihm das entscheidende Lob André Bretons einbrachte. Mit großem Erfolg führte der Rumäne das Kristalline und Insektenhaft-Hybride in die von Dalí und Max Ernst dominierte revolutionäre künstlerische Bewegung ein, seine Gouachen und Radierungen sind von einer auch heute noch aufregenden Modernität. In Rumänien ist sein Name jedoch nahezu unbekannt.

Nach dem Exodus fanden die Surrealisten in der „Villa Air-Bel“ eine Unterkunft, einem am Stadtrand von Marseille gelegenen Anwesen. Unter André Bretons Anleitung lebte hier der etwas in die Jahre gekommene Geist der kämpferischen Avantgardisten neu auf, Kollektivzeichnungen und das Kartenspiel Le Jeu de Marseille entstanden. Hérold schuf die Karten „Sade“ und „Lamiel“, Brauner „Hegel“ und „Helene Smith“. In der Villa kreuzten sich die Wege vieler rumänischer Künstler und Helfer. Victor Brauner und Jacques Hérold trafen auf Tristan Tzara und einen weiteren Moldauer, Marcel Verzeano aus Iaşi, einen Mitarbeiter Frys, der nach Medizinstudien in Italien und Paris ebenfalls nach Marseille gekommen war. Verzeano kümmerte sich vor allem um die Auskundschaftung von Routen über die Pyrenäen nach Spanien und zur Weiterfahrt nach Lissabon. Routen, wie sie dann Lisa Fittko benutzte, um Flüchtlinge wie Walter Benjamin oder Heinrich Mann über die Pyrenäen nach Port Bou in Spanien zu bringen. Er selbst ging 1941 diesen Weg in die USA und wurde ein angesehener Neurologe. Auf dieser Route ebenfalls gerettet wurde der aus Bukarest stammende und in Deutschland in den zwanziger Jahren sehr erfolgreiche konservative Sachbuchautor Valeriu Marcu (Lenin, Die Vertreibung der Juden aus Spanien).

Als Breton mit dem Anthropologen Claude Lévi-Strauss und der deutschen Schriftstellerin Anna Seghers 1941 den Frachter „Capitain Paul Lemerle“ bestieg, um sich nach Amerika zu retten, war dies den rumänischen Malern nicht möglich. Aber da gab es den Schauspieler und Dichter Sylvain Itkine, ein Aktivist, der die Kunst des „se débrouiller“, des Sichdurchschlagens, beherrschte. „Hérold erzählte mir mit seinem angenehmen rumänischen Akzent einmal von Itkine und seiner Kooperative, von der ich bis dahin nichts wusste,” berichtet Alain Paire. Der Moldauer kannte Itkine aus Paris, wo dieser in kleineren Filmrollen aufgetreten war – nun hatte Itkine in Marseille eine Kooperative gegründet, um vom Hunger bedrohten Flüchtlingen das Überleben zu ermöglichen: „Le Fruit Mordoré“, in der unter dem Namen „Croque Fruit“ aus Früchten Süßigkeiten hergestellt und auf den Märkten verkauft wurden. Das passte Hérold, hatte sein Vater in Rumänien doch eine Zuckerfabrik besessen.

Auf den Plakatwänden

In der großen Ausstellung zu seinen Ehren im Musée Cantini gewann ein unscheinbares, verblasstes Bonbonpapier mit der Aufschrift „Croque Fruit“ für den Betrachter eine unerwartete Aura. „Itkine ist eine der herausragenden Gestalten jener Zeit, ein noch völlig unterschätzter Künstler und Widerständler. Er wurde kurz vor Kriegsende von Klaus Barbies Gestapo-Schergen in Lyon ermordet,“ erläutert Alain Paire.

Als die Deutschen auch den Rest Frankreichs besetzten, tauchten die Moldauer Künstler unter: Der Dadaist Tristan Tzara schloss sich der kommunistischen Résistance an und lieferte Beiträge für illegale Zeitungen und Radiostationen in Südfrankreich. Hérold schlug sich mit einem gefälschten Ausweis durch, der auf den Namen „Herauld“ lautete und mit der Unterschrift des Dramatikers Antonin Artaud als Zeuge versehen war. Der Rumäne ließ sich eine Zeit lang in der Nähe des früheren Schlosses des Marquis de Sade in Lacoste nieder, dann in Annecy, versuchte möglichst nicht aufzufallen, als sein Freund Itkine sich der Résistance angeschlossen hatte. 1943 kehrte Hérold nach Paris zurück und musste erfahren, dass auch seine Eltern in Rumänien den Krieg nicht überlebt hatten.

Auch Victor Brauner war mit gefälschten Papieren untergetaucht: Er erklärte sich mit seinem realen Namen zum Elsässer und lebte mit Freunden in Célliers-de-Rousset, einem kleinen Dorf in den Alpen, wo er fast drei Jahre lang nur nachts das Haus verließ, um Kontakt mit dem in der Résistance aktiven Dichter René Char zu halten. Die Rumänen hatten „se débrouiller“ gelernt.

Auf den Plakatwänden Marseilles und an den Kiosken im Bahnhof St. Charles mit seiner großen Freitreppe in die Stadt, die alle Migranten und Reisenden benutzen, wechseln sich Plakate von der eben zu Ende gegangenen Ausstellung über Hérold mit denen eines anderen Flüchtlings ab: Scharf prüfend schaut die markante Physiognomie Stéphane Hessels, mit der eine Zeitschrift ihre aktuelle Ausgabe aufmacht, die Passanten an. Er ist einer der letzten, die ihre Existenz auch heute noch aus dem Gedächtnis an den Exodus und die Résistance verstehen.

Von Markus Bauer erschien zuletzt der Band In Rumänien. Auf den Spuren einer europäischen Verwandtschaft

Literaturtipp: Auslieferung auf Verlangen: Die Rettung deutscher Emigranten in Marseille 1940/41 Varian Fry Fischer 2009, 345 S., 10,95



Reisetipp: Die frühere Ziegelfabrik Les Milles bei Aix-en-Provence wurde als Internierungs- und später Deportationslager genutzt. Erhalten sind Wandmalereien von internierten Künstlern. Die Erinnerungsstätte ist bis September 2011 wegen Renovierungen geschlossen. In Sanary-sur-Mer findet sich noch der Wohnturm, in dem Franz Hessel nach seiner Freilassung aus Les Milles entkräftet starb. Eine Plakette der Mairie erinnert am Touristenbüro an die zahlreichen deutschsprachigen Flüchtlinge. In Marseille veranstaltet Sabine Günther vom Verein PassageCo Literaturrundgänge mit dem Thema Exil und Flucht. Alain Paire leitet in Aix-en-Provence eine Galerie und Buchhandlung (30, rue du Puits-Neuf); seine website bietet zahlreiche Texte zur Geschichte der Künstler und Flüchtlinge in Marseille und der Provence.



Die frühere Ziegelfabrik "Les Milles" bei Aix-en-Provence wurde als Internierungs- und später Deportationslager genutzt. Erhalten sind Wandmalereien von internierten Künstlern. Die Erinnerungsstätte ist bis September 2011 wegen Renovierungen geschlossen (Association Mémoire du Camp des Milles, www.campdesmilles.org, Tel. 0442391711). In Sanary-sur-Mer findet sich noch der Wohnturm, in dem Franz Hessel nach seiner Freilassung aus "Les Milles" entkräftet starb. Eine Plakette der Mairie erinnert am Touristenbüro an die zahlreichen deutschsprachigen Flüchtlinge. In Marseille veranstaltet Sabine Günther vom Verein "Passage" Literaturrundgänge mit dem Thema Exil und Flucht (www.passage-co.com; 0663526371). Alain Paire leitet in Aix-en-Provence eine Galerie und Buchhandlung (30, rue du Puits-Neuf); seine website (www.galerie-alain-paire.com) bietet zahlreiche Texte zur Geschichte der Künstler und Flüchtlinge in Marseille und der Provence.



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