Abendlicher Gang in den Bunker

Die Appeasement-Republik Nach der umstrittenen Präsidentenwahl ist Taiwan mehr denn je eine Herausforderung für die Ein-China-Politik des Westens

Taiwan leistet sich nach den Präsidentenwahlen vom 20. März eine veritable politische Krise. Sie könnte entschärft sein, nachdem Staatschef Chen Shui-bian, der das Votum mit einem hauchdünnen Vorsprung von 0,2 Prozent gewonnen hatte, eine Neuauszählung der Stimmen unterstützt. Sein Widersacher Lien Chan von der Kuomintag-Partei (KMT) verliert derweil Rückhalt im eigenen Lager und wirkt zusehends wie ein zutiefst verbitterter Politiker, der eine mögliche Niederlage nicht zugeben will.

Auf den Dünen wanken Gestalten in bunten Windjacken und schwenken lange Gerätschaften, Angelruten wahrscheinlich oder gar Sonnenschirme für den Strand. Das ist also die Volksrepublik China. Aus dem Gefechtsbunker spähen Touristen über die dunstige Meerenge zum Festland. Über ihnen, auf dem Hügel, der den Betonbau mit den meterlangen Sehschlitzen verbirgt, dröhnen sülzige Popsongs aus den riesigen Megafonen der Armee - längst nicht mehr die blecherne Stimme des Generalissimo Chiang Kai-shek. Das ist Taiwan - und der Krieg ist aus.

Kinmen, eine 15 Kilometer breite Insel, deren äußere Gestalt an einen Schmetterling erinnert, war die Lehrstube der psychologischen Kriegsführung für die Militärs der Welt. Montag, Mittwoch und Freitag feuerte Taiwans Armee einer Übereinkunft von 1958 gemäß auf das sozialistische Festland. Dienstag, Donnerstag und Samstag, jeweils zur Abendstunde, antwortete die chinesische Artillerie. Der erste Einschlag war immer der gefährlichste, erklären die Leute auf Kinmen. Danach habe man besser abschätzen können, aus welcher Richtung die Geschosse kamen."Mein Vater hat uns einmal das Stück einer Granate in den Bunker gebracht. Es war noch warm. Wir sollten nicht vergessen, dass es draußen gefährlich ist", erzählt Weng Min-huei über das Ritual ihrer Kindheit, den abendlichen Gang in den Bunker mit ihrer Schwester an der Hand.

Heute ist die Insel eine Mischung aus Normandie und "Doktor No", aus muffigen Kriegsmuseen mit dick lackierten Waffen und unterirdischen Betonhallen und Schiffskanälen, durch die Weng Min-huei führt. Wie alle Frauen auf der Insel war sie früher einmal Soldatin der Bürgerwehr. Aber alles ist anders geworden auf Kinmen, seit sich die Tür zur Volksrepublik China einen Spalt weit öffnete und das erste Fährschiff zum Festland, in Richtung Xiamen, ablegte, der 40 Minuten entfernten Millionenstadt auf dem Kontinent. Das war im Frühjahr 2001, und Kinmen ist seither neben Matsu, einer anderen Insel unter taiwanesischer Hoheit, der einzige direkte Zugang zum Festland, an dem sich die gewaltige Sogwirkung des chinesischen Marktes spüren lässt. Kinmen ist jedoch vor allem ein Indikator für die Entspannung zwischen der Volksrepublik und Taiwan samt den verbündeten USA. Doch mit einem Mal scheint die Entkrampfung an einen kritischen Punkt geraten zu sein.

Hightech-Plattform im Pazifik

Fast 94 Prozent stimmten auf der Insel bei den jüngsten Präsidentenwahlen (am 20. März) für Lien Chan, den Kandidaten der Opposition und Chef der ein halbes Jahrhundert zumeist autoritär regierenden Kuomintang-Partei des General Chiang Kai-shek. Kinmen, dieses total durchmilitarisierte Eiland - 60.000 Einwohner lebten einst neben 110.000 Soldaten -, das erst 1992 wieder in ein mehr ziviles Dasein entlassen wurde, weiß, was es der Nationalisten-Partei schuldig ist. In der Hauptstadt Taipeh allerdings - eine Flugstunde entfernt von Kinmen - denkt Präsident Chen Shui-bian über eine Unabhängigkeit der "Republik China" von der Volksrepublik auf dem Festland nach, eine neue Verfassung für 2008 und ein Ende der "Ein-China-Politik", an die in seiner Partei keiner mehr glaubt. Und das ist mehr als genug, um den Zorn der chinesischen Führung auf sich zu ziehen. 500 Kurzstreckenraketen hat Peking mittlerweile in Fujian, der Taiwan gegenüberliegenden Provinz stationiert. Eine offizielle Unabhängigkeitserklärung Taiwans wäre ein Kriegsgrund. Der Großteil ihrer Rüstungsanstrengungen, sagen Sicherheitsexperten in Washington und Taipeh, sei durch die Volksrepublik China auf eine eventuelle Eroberung Taiwans gerichtet.

Kein Wunder, dass die Leute auf Kinmen mehr noch als Taiwans Bürger am Status quo festhalten wollen. Status quo heißt: alle Fragen über die politische Zukunft im Verhältnis zwischen der Volksrepublik China und Taiwan bleiben offen, und jeder Unternehmer kann beruhigt seinen Geschäften nachgehen. Zwischen 800.000 und einer Million Taiwanesen haben sich in den vergangenen Jahren in Shanghai oder anderen großen chinesischen Städten mit "Ökonomischen Sonderzonen" niedergelassen und Firmen eröffnet.

"Unsere Abhängigkeit vom Festland ist viel zu groß geworden", sagt David Hong, Chef des Taiwan Instituts für Wirtschaftsforschung in Taipeh. "Mainland China" ist Taiwans größter Exportmarkt hinter den USA und Japan, offiziell mehr als 40 Prozent der taiwanesischen Investitionen gehen dorthin. Es könnten auch 80 sein, meint Hong, rechne man die Geldtransfers über fiktive Firmen in der Karibik oder anderswo hinzu. Ein Teil der für die Taiwanesen neuartigen Arbeitslosigkeit von etwa fünf Prozent wird durch die Auslagerung von Unternehmen zum Festland verursacht. Dabei müssen Taiwans Geschäftsleute bisher mit ihren Lieferungen einen zwölf bis sechzehn Stunden dauernden Umweg über Hongkong oder Macao nach China nehmen. Sie drängen auf eine komplette Öffnung des Flug- und Schiffsverkehrs zum Festland. Kinmen und seine nur für die Inselbewohner benutzbaren, täglichen drei Fährverbindungen nach Xiamen sind erst der Beginn.

Taiwan, die Hightech-Plattform im Pazifik, die als organisierter Kapitalismus startete und dann zur Verlegenheit des Westens die politische Freiheit entdeckte, steht heute vor unmöglichen Alternativen: Demokratie oder wirtschaftliche Prosperität, politische Selbstbehauptung oder Appeasement gegenüber Peking, Verzicht auf die Präsenz in internationalen Gremien oder 500 feindliche Raketen. Taiwans Regimekrise, die seit der umstrittenen Präsidentschaftswahl am 20. März andauert, hat diese Zwangslage nur noch kompliziert.

Die Karosse des Präsidenten

Die ganze Misere begann, als der rote Jeep aus der Chinhua Road in die Wenshien Road bog. Irgendwo am Straßenrand müssen sie gestanden und auf den Präsidenten gefeuert haben wie Anno ´63 im texanischen Dallas, nur diesmal war es Tainan, eine Stadt mit 700.000 Einwohnern im Süden Taiwans, und der Präsident hieß Chen Shui-bian, ein Bauernsohn, kein Spross der amerikanischen Ostküsten-Aristokratie wie einst John F. Kennedy.

Auch war die Karosse des Präsidenten - Staatschef darf man eigentlich nicht sagen, denn nur der Vatikan erkennt Taiwan auf der diplomatischen Weltkarte an und ein paar versprengte Kleinstaaten in Mittelamerika und im Pazifik - erheblich kleiner. Ein roter Jeep eben, in dem Chen aufrecht stand und neben ihm, ebenfalls winkend, seine Vizepräsidentin Annette Lu. Das alles ist wichtig für die Verschwörungstheorien, die sich seither des Zwischenfalls in der Wenshien Road annehmen. Vermutlich hat der Attentatsversuch Chen Shui-bian eine knappe und eigentlich unerwartete Wiederwahl durch Sympathiestimmen beschert, die wiederum nur unglückliche Gesichter in Washington wie in Peking hervorrief und schließlich die kaum ein Jahrzehnt alte Demokratie auf Taiwan in die Krise trieb. Was, wenn Chen den Mordanschlag am letzten Tag des Wahlkampfes nur inszeniert hat? Wie konnte ein Schütze nur so nahe an das Fahrzeug des Präsidenten kommen und dann sein Ziel so sorgfältig verfehlen? War die folgende Alarmierung aller Armee- und Polizeikräfte im Land nicht ein geschickter Schachzug, um angeblich 200.000 Kuomintang-Anhänger am Gang in die Wahlbüros zu hindern?

Dabei hatten sich Washington und die EU-Regierungen redlich Mühe gegeben, die Wahl auf Taiwan in die richtigen Bahnen zu lenken. Nicht der frühere Dissidentenanwalt Chen Shui-bian, der Peking so sehr mit seinen Unabhängigkeitsbestrebungen provoziert, sollte noch einmal gewählt werden. Chens Referendum über neue Militärausgaben zum Aufbau eines Raketenabwehrsystems und zur Aufnahme neuer Verhandlungen mit Peking, das parallel zu den Präsidentschaftswahlen stattfand und im Übrigen mangels Beteiligung scheiterte, haben Schröder, Chirac und Bush mehrfach als unnötigen und gefährlichen Schritt kritisiert. Der EU-Außenpolitikbeauftragte Javier Solana wiederum wurde noch kurz vor den Wahlen in Peking vorstellig, um zu versichern, dass die Frage des seit der Niederschlagung der Studentenrevolte von 1989 geltenden Waffenembargos der EU gegen China "gelöst" würde.

Für die im Chinarausch schwelgenden Konzernmanager und Regierungsvorsteher im Westen wäre Chens Herausforderer Lien Chan der geeignetere Mann gewesen: konzilianter gegenüber der Volksrepublik, die nach Hongkong und Macao auch noch die letzte abtrünnige Provinz ins Reich der Mitte holen möchte. Auch Lien Chan würde das natürlich nicht zulassen, aber der alte Kuomintang-Apparatschik hätte eben weiter an Taiwans Status quo mit China festgehalten: Ein bisschen Demokratie spielen, aber nicht auffallen; die 23 Millionen Taiwanesen weiter von der internationalen Bühne wegsperren, von wo sie 1971 durch die Großstrategen Nixon und Kissinger vertrieben wurden. Washington ließ damals den kleinen Verbündeten fallen, um sich ein Bündnis mit Mao Zedongs China gegen die Sowjetunion zu erkaufen. Die Volksrepublik nahm den Sitz der Republik China im UN-Sicherheitsrat ein.

Taiwan ist seither zu einem Skandal der westlichen Außenpolitik geworden. Alle EU-Staaten unterhalten Handelsmissionen in Taipeh, einige - wie bis in die neunziger Jahre Frankreich - verkaufen auch Waffen an die einzige chinesische Demokratie. Doch die Furcht, beim Rennen um den Markt der Volksrepublik China und ihre mehr als eine Milliarde Konsumenten von der Regierung in Peking aufgehalten zu werden, ließ noch jeden in die Knie gehen. Seit sieben Jahren bemüht sich Taiwan um einen Beobachterstatus in der Weltgesundheitsorganisation. Selbst im SARS-Jahr 2003 waren die EU-Europäer nicht imstande, in der WHO eine dem zustimmende Mehrheit zu organisieren. "Wir brauchen mehr Freunde" - meint Joseph Wu, Leiter des Präsidialamtes in Taipeh - "aber wir können dabei nicht so vorgehen, wie China es tut".


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