Richtig in Form ist er nur noch bei den Guignols, der abendlichen Polit-Marionettensendung auf Canal plus. "Sarkozy, Sarkozy", singt Jacques Chirac, schiebt seinen Altherren-Bauch von links nach rechts über die Bühne und dreht und wendet dabei im Rhythmus seine beiden Hände, als ob er Glühbirnen einschrauben wollte. "Du hättest meine Unterstützung haben können", sagt der abgehalfterte Staatschef bei dieser Gelegenheit zu Nicolas Sarkozy. "Mit meiner Bilanz im Rücken wärst du mit 20 Punkten Vorsprung davon gesegelt", behauptet er. Aber diese Bilanz gibt es eben nicht. Das ist der Witz, und auch Jacques Chirac ist amüsiert, schließlich muss sich Sarkozy, sein ungeliebter Erbe im rechten Lager, heftig mühen. Zehn Tage sind es noch bis zur ersten Runde der Präsidentschaftswahlen, und zwölf Jahre Chirac sind zu Ende.
Der Elysée-Palast versucht in diesen Tagen, Normalität zu simulieren. Der Arbeitsplan des Hausherrn wird an die Nachrichtenagentur weitergegeben, als ob es noch irgendeine Bedeutung hätte, dass der Staatschef eine Fallschirmeinheit in Bayonne besucht oder vor einer nationalen Konferenz zur Krebsbekämpfung spricht. Das Protokoll der Republik läuft wie ein Uhrwerk, doch der Präsident hat in Wahrheit keinen Einfluss mehr auf das Land, das nun im Rhythmus der täglichen, aggressiver werdenden Wahlkampfreden von Nicolas Sarkozy, dem Kandidaten der Rechtsbürgerlichen, und der Sozialistin Ségolène Royal lebt. Aber hatte Chirac nicht schon vor langer Zeit die Kontrolle über all das verloren, was in Frankreich debattiert und entschieden wird?
"Dieses Frankreich, das ich liebe, wie ich euch liebe, hat noch nicht aufgehört, die Welt zu erstaunen", hatte der 74-Jährige Anfang März in einer halb ehrlich gemeinten, halb larmoyanten Abschiedsrede im Fernsehen den Franzosen erklärt. Letzte Spekulationen über eine dritte Kandidatur beendete er damit selbst. Im entscheidenden Augenblick, als er der Nation gegenüber die Bilanz seiner Amtszeit ziehen sollte, habe Jacques Chirac lieber von "Werten" gesprochen und damit gezeigt, wie begrenzt doch seine politischen Leistungen gewesen seien, urteilte Jean-Marie Colombani, der Chefredakteur von Le Monde, mitleidlos am Tag danach.
Jacques Chiracs zwölf Jahre währende Präsidentschaft war ein Debakel für Frankreich und Europa. Nur wenige unerschütterliche Anhänger des hoch gewachsenen, lange hyperaktiven Franzosen stellen das in Frage. Doch wenn es leicht ist, die Liste seines Versagens seit dem Einzug im Elysée-Palast im Mai 1995 abzuspulen - von den Atomtests in Mururoa 1995 über die verpatzten Neuwahlen 1997 bis zum gescheiterten Referendum über die EU-Verfassung 2005 -, so steht die Ära Chirac doch für eine viel grundsätzlichere Zäsur: Frankreich hat die politische Auseinandersetzung mit dem angelsächsischen Modell des Wirtschaftsliberalismus verloren. Ein Präsidentschaftskandidat mit realistischen Chancen, der diese Niederlage korrigieren könnte, ist auch nicht in Sicht.
"Natürlich bin ich links", meinte Chirac im Wahlkampf 1995, "ich esse Sauerkraut, ich trinke Bier"
Das Land, das nach dem Zweiten Weltkrieg mit Charles de Gaulle einen nationalen Sonderweg in Westeuropa beschritt, das 1981 - als unter dem US-Präsidenten Ronald Reagan das Ost-West-Verhältnis wieder konfrontativer wurde - mit François Mitterrand erstmals einen Sozialisten zum Staatschef wählte und die mit ihm verbündeten Kommunisten an die Regierung ließ, das 1997 schließlich einer neuen, globalisierungskritischen Linksregierung unter Premierminister Lionel Jospin zur Macht verhalf - dieses Frankreich des Staatsdenkens und des Glaubens an die Regulierbarkeit scheint heute erledigt: Arbeit findet man um vieles leichter in London, nicht in Paris; investiert wird in Polen oder Tschechien, nicht auf dem französischen Land; bei Geschäften mit China und Indien sind Franzosen selten vorne weg. Die Arbeitslosigkeit hat eine lange Reihe von Rechts- und Linksregierungen mit unterschiedlich motivierten Beschäftigungs- und Wachstumsinitiativen nicht dauerhaft in den Griff bekommen. Jacques Chirac war dabei derjenige, der am eifrigsten die Unterscheidbarkeit der politischen Lager in Frankreich aufzuweichen versuchte und am Ende noch mehr Frustrationen bei den Franzosen auslöste. "Natürlich bin ich links", sagte er ironisch am Rande eines Wahlkampfauftritts 1995, "ich esse Sauerkraut, ich trinke Bier ..."
Chirac gewann seinerzeit die Präsidentschaftswahlen mit dem Versprechen, den "sozialen Bruch" in Frankreich heilen zu wollen. Enttäuschte Wähler der Sozialisten glaubten ihm, eine Reihe von Intellektuellen - Emmanuel Todd, Régis Debray, Pierre Rosanvallon, Françoise Giroud, Blandine Barret-Kriegel - fand ihn gar nicht so übel. Chirac redete vom großen Brückenschlag, während andere, Sozialliberale zumeist, wie der spätere Außenminister Hubert Védrine oder Finanzminister Dominique Strauss-Kahn, den leider unaufhaltsamen Verlust der "politischen" Macht gegenüber dem Markt beklagten.
Natürlich blieb dieser Präsident sein Versprechen schuldig, was besonders in den vergangenen Jahren deutlich wurde. Der wochenlange Aufstand in den Vorstädten im November 2005 oder auch nur die von der Polizei offenbar fahrlässig provozierten Ausschreitungen jugendlicher Einwanderer auf dem Pariser Bahnhof Gare du Nord gerade erst Ende März zeigten, wie sehr die französische Gesellschaft heute aus dem Lot ist, wie unversöhnlich sich "weiße" Franzosen und Unterprivilegierte der Einwanderergenerationen gegenüberstehen. Die einen rufen immer lauter nach Recht und Ordnung, die anderen nach Gleichberechtigung.
Etwas mehr als die Hälfte der Franzosen überhaupt und zwei Drittel der jungen Erwachsenen halten heute "rechts" und "links" für keine aussagekräftigen Begriffe mehr. Das ist vorrangig das Erbe von Chiracs Präsidentschaft, und es wirkt sich vollständig auf den laufenden Wahlkampf aus. Sarkozy, Royal und Jean-Marie Le Pen, der Chef des rechtsextremen Front National ohnehin - sie spielen gleichermaßen die Karte des "Volkes" gegen die der "Eliten" - es geht nicht etwa um traditionell "rechte" gegen traditionell "linke" Werte. Dabei mag die Vorstellung, was unter dem Feindbild "Eliten" zu verstehen ist, von Kandidat zu Kandidat schwanken. Bei Sarkozy und Le Pen sind es die abgehobenen Meinungsführer der 68er-Generation in Kultur und Politik, die Toleranz predigen und mit ihrer Naivität und Verantwortungslosigkeit Frankreich ruiniert hätten. Bei Ségolène Royal werden vornehmlich die konservativen Wirtschaftspolitiker anvisiert, die Pariser Manager-Schickeria, der das aufrechte, lange gegängelte Volk patriotische Gesinnung beibringen muss und einen Sinn für sozialen Anstand. Es wundert wenig, dass auf diesem Jahrmarkt blau-weiß-roter Plattheiten ein politisch liberaler Kandidat wie François Bayrou plötzlich mehr und mehr Zustimmung unter den Bürgern findet: Er ist nicht sexy, aber ehrlich.
Die einen rufen nach Recht und Ordnung, die anderen nach Gleichberechtigung
Jacques Chirac, der 1965, vor mehr als vier Jahrzehnten, ein Gemeinderatsmandat in Sainte-Féréole, einem Dorf in der Corrèze, gewann und damit seine politische Karriere startete, war ein Mann des Übergangs. Einer, der aus dem Gaullismus kam, 1967 als Staatssekretär im Sozialministerium der dritten Regierung von Georges Pompidou begann, zweimal selbst Premierminister war (1974 bis 1976 und 1986 bis 1988) und dabei den "Neogaullismus" als Partei- und Politik-Etikett benutzte. Chiracs Partei gibt es heute nicht mehr, sie ist in der großen konservativen Union der Volksbewegung (UMP) von Nicolas Sarkozy aufgegangen - der Gaullismus hat ausgedient.
Eine Nation, auf Normalmaß gestutzt und voller Selbstzweifel
Mit zwei glänzenden Reden hatte Chiracs Vertrauter, der damalige Außenminister und heutige Regierungschef Dominique de Villepin, kurz vor dem Beginn des Irak-Kriegs Anfang 2003 noch einmal das Register des Gaullismus gezogen. Vor dem UN-Sicherheitsrat und später vor dem Internationalen Institut für Strategische Studien in London warf sich de Villepin in die Pose des nationalen Streiters für die universalen Prinzipien von Recht und Gerechtigkeit und gegen die Arroganz der Großmacht, ganz wie einst General de Gaulle oder auch noch François Mitterrand. Doch nichts folgte darauf. Frankreich war nicht mehr in der Lage, sich eine Gefolgschaft zu organisieren und Alternativen durchzusetzen - weder beim Irak-Krieg, noch im Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern oder bei der ungehemmten Liberalisierung der EU. Auf den nächsten Präsidenten oder die nächste Präsidentin wartet eine wenig glanzvolle Aufgabe: eine Nation zu führen, die auf Normalmaß gestutzt und voller Selbstzweifel ist.
Dossier Chirac
Zurück nach Mururoa
Kaum als Präsident vereidigt, lässt Jacques Chirac im Juni 1995 keinen Zweifel, die umstrittenen Atomtests auf Mururoa wieder aufnehmen zu wollen, bei denen Vorgänger Mitterrand ein dreijähriges Moratorium eingehalten hatte. Internationale Proteste lassen Chirac nicht einlenken.
Stunden der Finsternis
Am 16. Juli 1995 erkennt der Präsident in einer Rede zum Jahrestag der Razzia vom Vélodrome d´Hiver erstmals an, dass den französischen Staat eine Mitschuld an der Deportation und dem Tod jüdischer Bürger während der deutschen Okkupation treffe: Wörtlich: "Diese Stunden der Finsternis besudeln für immer unsere Geschichte ..."
Fünf Jahre Cohabitation
Im April 1997 löst Chirac das Parlament auf, weil ihm eine stabile konservative Mehrheit fehlt, die nun über Neuwahlen erreicht werden soll. Statt der Gaullisten triumphieren die Sozialisten, und Jacques Chirac muss die nächsten fünf Jahre mit einer "Cohabitation" vorlieb nehmen.
Sieg über Le Pen
Nur desaströse 19,8 Prozent der Stimmen kann der Amtsinhaber 2002 während der ersten Runde der Präsidentenwahl erringen. Da sein sozialistischer Kontrahent Jospin ähnlich verheerend abschneidet, sieht sich Chirac in der Stichwahl dem Führer des rechtsextremen Front National, Jean-Marie Le Pen, gegenüber.
Gestauchte Europhorie
Das Referendum über eine EU-Verfassung wird zur schwersten politischen Niederlage für Chirac in seiner zweiten Amtszeit, als sich am 29. Mai 2005 54,8 Prozent für ein "Non" entscheiden und dafür sorgen, dass der so genannte Verfassungsprozess seither in einer schweren Krise verharrt.
Nicht konventionell
Während eines Truppenbesuchs Anfang 2006 scheint Chirac entschlossen, den defensiven Charakter der Atommacht Frankreichs zu revidieren. Er droht, den "Terrorismus unterstützende Staaten" müssten mit Nuklearschlägen rechnen. Ohne Teheran direkt zu nennen, kündigt er auf der bretonischen Ile Longue "Anführern" solcher Staaten Vergeltung in "nicht konventioneller Weise" an.
Abschied ohne Empfehlung
Am Abend des 11. März 2007 kündigt Jacques Chirac in einer Fernsehansprache offiziell an, bei den anstehenden Präsidentenwahlen nicht noch einmal kandidieren zu wollen. Für einen Nachfolger im Elysée-Palast gibt er keine Empfehlung ab.
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