Die Republik steht nackt da

Frankreich nach dem Krawallmonat November Die Präsidentenbewerber Sarkozy und de Villepin konnten mit Latrinenparolen und dem Gewicht des Polizeistaates etwas für ihre Umfragewerte tun

Einer von dreien, die auszogen, um einen ganz normalen Nachmittag auf dem Fußballplatz zu verbringen, ist wieder zurückgekehrt, nach Hause. Fast zwei Monate sind seit dem Spiel auf dem Bolzplatz in Livry-Gargan, einer der Vorstädte im Pariser Norden, vergangen. "Mort pour rien" steht in schwarzen Lettern auf dem T-Shirt, das sie ihm übergezogen haben, als er aus dem Hospital entlassen wurde. "Für nichts gestorben". Und ganz sicher nicht "für das Vaterland" - "Mort pour la patrie", wie es landauf landab in die Weltkriegs-Mahnmale der Franzosen gemeißelt ist. Dabei lebt Muhittin Altun doch, auch wenn dem 17-Jährigen der Rücken nach dem Unfall in der Transformatorenanlage noch immer schmerzt.

"Mort pour rien" ist die Losung, die Frankreich in eine der längsten sozialen Unruhen seit den Studentenprotesten von 1968 gestürzt hatte. 20 Krawallnächte mit mehreren tausend abgefackelten Autos und Gebäuden folgten auf den Tod von Muhittin Altuns Freunden Bounia und Ziad durch einen Hochspannungsschlag am 27. Oktober. Ob die drei Jugendlichen auf dem Nachhauseweg von ihrem Fußballspiel nur in Panik geraten waren, als sie die Polizeistreife sahen, und tatsächlich "nicht physisch verfolgt" worden waren, wie die Behörden behaupten. Oder aber, ob sie auf der Flucht mit Wissen der Beamten in die Umspannanlage in Clichy-sous-Bois eingedrungen waren, steht noch immer nicht fest. Ein Ermittlungsverfahren wegen "Verweigerung von Hilfe gegenüber Personen in Lebensgefahr" ist eingeleitet worden. Für die Einwandererfamilien in der Banlieue von Paris wie den anderen Großstädten gab es an der Wahrheit über den Tod von Bounia und Ziad nie einen Zweifel. "Wenn Frankreich brennt, ist es nicht ihre Schuld", heißt es in einem Rap-Song über die beiden Jugendlichen.

Der Rassismus der weißen Franzosen, die Verachtung durch den Staat, die scheinbar nie zu brechende Benachteiligung in Schulen und bei der Arbeitssuche trotz Jahrzehnte langer schöner Politikerversprechen waren das Ziel dieses Jugendaufstands in den Vorstädten. Eine kleine Antirassismusgruppe mit dem Kürzel A.D.M. - "Au delà des mots" ("Jenseits der Worte") - hat sich im Sog der Ereignisse gegründet. Von ihr bekommt man auch die T-Shirts mit dem anklagenden Schriftzug "Mort pour rien". Der Protest von unten richtet sich gegen die politische Sprache jener "da oben". Knapp einen Monat nach den vorerst letzten großen Brandnächten hat die Idee von A.D.M. die Steinewerfer und Pyromanen weit hinter sich gelassen. Der moralische Appell zur Aufrichtigkeit ist in Wahrheit ein Schnitt mit dem Skalpell, der die ganze Misere des heutigen Frankreichs offen legt. Denn jenseits seiner Worte steht das republikanische Frankreich nackt da.

Um Le Pen herum

Jenseits der Worte gibt es zum Beispiel die Zahlen über die Beliebtheit der Politiker in der vierten Woche nach dem Aufstand, eine obszöne Kalkulation über den Erfolg, den man mit zwei toten Einwandererjungen, ein paar Latrinenparolen und dem ganzen Gewicht des Polizeistaates in der Öffentlichkeit ernten kann. So gesehen haben sich Frankreichs ärgste Rivalen - Premier Dominique de Villepin und Innenminister Nicolas Sarkozy - ganz gut aus der Krise um die brennenden Vorstädte gezogen. Über seine anerkannt literarischen Worte hinaus wird de Villepin in den Umfragen jetzt mit 53 Prozent notiert, plus drei Punkte seit dem Krawallmonat November, und Sarkozy mit 54 (neun Punkte weniger, doch Tendenz wieder steigend), was statistisch alles keinen rechten Sinn ergibt, aber zeigt, wohin die Wählerdemokratie trippeln soll. Immer weiter im Laufrad zur nächsten Präsidentschaftswahl im Mai 2007 nämlich, dem einzigen Zeithorizont, der alles Tun der bürgerlichen Kandidaten Sarkozy und de Villepin bestimmt. Und natürlich nicht nur das ihre. "Ich stelle fest, dass sich die französische Politik um Le Pen herum anordnet", sagt der Chef der französischen Rechtsextremen zufrieden über sich selbst. Denn Worte sind noch immer alles.

Mit dem Begriff "Racaille" - Gesindel - für die Bewohner der Banlieue hatte Nicolas Sarkozy die Krawalle noch angeheizt. Sein früheres Versprechen, mit einem Hochdruckreiniger Marke Kärcher die Vorstädte von Dieben und Kleinkriminellen zu säubern, war nicht vergessen. Dass der Innenminister, der in 18 Monaten Staatspräsident werden will, so ungeniert seine Untermensch-Sprache pflegte, hat ihm auf der Höhe der Unruhen einiges an Popularität gekostet. Sarkozys Worte werden zwar gern von den Bürgern aufgenommen - mehr als die Hälfte der Franzosen, so ergab die jährliche Umfrage der staatlichen Menschenrechtskommission Ende November, ist mittlerweile der Ansicht, dass es zu viele Ausländer im Land gibt -, doch als Abend für Abend die Autos in den Fernsehnachrichten brannten und die Regierung in Paris gefährlich ratlos schien, wuchs das Verlangen nach etwas konstruktiveren Vorschlägen.

Sarkozy und de Villepin, die Nummer Zwei und die Nummer Eins der Regierung, liefern sich seither ein Wettrennen um die radikalsten Gesetzentwürfe, die waghalsigsten Formulierungen, die großzügigsten Angebote zur Rettung der Republik, die einmal Freiheit, Demokratie und Solidarität ungeachtet der Abstammung garantieren wollte: ein neues Gesetz zur Schulerziehung, ein anderes zur Einwanderung, ein Gesetzespaket zur "Prävention von Kriminalität" mit Bürgermeistern, die rasch neue Mini-Staatsanwälte gegen unbotmäßige Gemeindebewohner einschalten können, und mit einem Passus zur Kollektivverantwortung von Demonstranten, die in ihrer Mitte Gewalttäter haben. Kein Zusammenhang mit dem tödlichen Unfall im Transformatorenhäuschen in Clichy-sous-Bois scheint vermessen genug.

Nach amerikanischem Vorbild

Die Jungen gehen nachts auf die Straße, statt am Küchentisch Hausaufgaben zu erledigen? Ein Erziehungsproblem! Den Eltern droht mehr noch als in der Vergangenheit der Entzug staatlicher Hilfen, sollten sie ihre Kinder vernachlässigen.

Sind nicht überhaupt zu viele krawallbereite Jugendliche in den Vorstädten unterwegs? Ganz klar eine Folge der Polygamie in den muslimischen Familien! Die Einwanderungspolitik muss schärfer - der Nachzug von Familienangehörigen viel schwerer werden. Der Aufstand in der Banlieue auch die Folge eines Gesetzesartikels vom Februar über die "positive Rolle Frankreichs in Übersee, vor allem in Nordafrika"? Keine parlamentarische Ruhmestat, aber man wird doch noch festhalten dürfen, dass französische Lehrer während der Kolonialzeit ordentliche Arbeit geleistet haben. Au-delà des mots, jenseits der Worte, sieht Frankreich am Ende dieses Jahres fürchterlich alt aus. Der Präsident verbraucht und in der öffentlichen Debatte kaum noch präsent, das politische System der V. Republik mehr denn je entstellt durch die gänzlich personalisierten, von Fernsehen und Zeitungen unablässig kommentierten Wahlen für das höchste Amt im Staat, bei denen ein halbes Dutzend Männer und Frauen ihre Chance wittern.

Mit seinem Dauerwahlkampf und dem Ausnahmezustand aus den Tagen des Algerien-Krieges, den Premier de Villepin verhängte und der immer noch gilt - denn das in der Banlieue zur Tradition gewordene Auto-Abfackeln zu Silvester steht bevor - treibt das Land auf eine politische Grundsatzentscheidung zu. Eine "Kultur der sozialen und wirtschaftlichen Entschuldigung" nennt Nicolas Sarkozy die Jahrzehnte langen Bemühungen um Chancengleichheit für die Franzosen der Banlieue, die besonders von der Linken getragen werden. Dabei sind es eben diese Versprechen, die Gaukelbilder von der gerechten Republik, unzureichend finanziert und nie wirklich vom wohlhabenden Teil der Bürger akzeptiert, die so vielen Jugendlichen aus den Einwandererfamilien den Glauben an die "Grande Nation" geraubt haben. Frankreichs Krawallmonat hat das Tor zu einer "Liberalisierung" der Sozialpolitik nach amerikanischem Vorbild aufgestoßen, die kaum jemand wirklich wollte.


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