El-Shifa-Hospital, Operationssaal

OPFER DER INTIFADA Fast jeder dritte der verwundeten Palästinenser wird ein Krüppel bleiben

Doktor Mouweza Hassanein hat sie alle versorgt, die meisten sind bei ihm über den Operationstisch gegangen. "97 Prozent, soviel bestimmt", sagt der betagte Mediziner, der die Notaufnahme im El-Shifa-Hospital von Gaza-Stadt leitet: Das heißt fast alle, die bei den Konfrontationen mit der israelischen Armee im Gazastreifen verletzt wurden und jene, die starben und die der Doktor deshalb "die Märtyrer" nennt nach dem Sprachgebrauch der Palästinenser. "Mir wird schlecht, wenn ich daran denke. In den vergangenen drei Monaten habe ich Dinge gesehen und erfahren wie noch nie in meinem Leben ... "

Mit monotoner Stimme zählt Hassanein auf, was er bislang aus den Körpern seiner Patienten operiert hat: "normale", eben scharfe Munition, deren Gebrauch die israelische Armee erst Wochen, nachdem der erneute Aufstand der Palästinenser ausgebrochen war, wirklich zugab; dazu kamen Hochgeschwindigkeitskugeln, die nur ein winziges Einschussloch hinterlassen, aber zumeist im Körper bleiben und tödliche innere Blutungen verursachen; Munition, die erst im Körper des Getroffenen explodiert und deshalb international geächtet ist; schließlich die sogenannten "Gummigeschosse". Dabei handelt es sich um Metallkugeln von einem Zentimeter Durchmesser mit einer dünnen Plastikhaut, die auf kurze Entfernung gefeuert in Auge und Gehirn eindringen können. "Anders als während der ersten Intifada Ende der achtziger Jahre" - so Hassanein - "benutzen sie eben nicht mehr die weniger gefährlichen, nur aus Kautschuk gefertigten Gummigeschosse."

Der Chirurg im El-Shifa-Krankenhaus erhebt mit seiner Schilderung schwere Vorwürfe gegen die israelischen Soldaten. Gezielt würden sie auf Gelenke und Muskeln in Armen und Beinen zielen, behauptet er, ohne jeden Zweifel hätten die Soldaten zuvor während ihrer Ausbildung Unterricht in Anatomie erhalten. "Sie konzentrieren sich eindeutig darauf - zumindest ist das mein Eindruck -, bleibende Schäden und Behinderungen zu verursachen", sagt Hassenein. Von den bislang 7.000 verwundeten Palästinensern in dem seit vergangenen Oktober andauernden Konflikt würden mehr als 2.000 für den Rest ihres Lebens Krüppel bleiben.

Spätestens seit den Raketenangriffen auf mutmaßliche Kommandozentralen palästinensischer Extremisten und dem Aufzug schwerer Panzer an den Straßensperren hat sich für die mehr als eine Million Einwohner im Gaza-Streifen der Charakter des Konflikts mit den Israelis gravierend verändert. "Das ist jetzt ein Krieg, wie es ihn hier noch niemals gab", meint Bayan Abeid, ein Pharmaziestudent. "Ich habe nie zuvor solche Panzer gesehen. Früher, während der ersten Intifada, ist höchstens ab und zu einer am Horizont entlanggefahren - ein Drohgebärde, mehr war das nicht."

Die Situation sei heute sehr gefährlich, warnt Ayad al-Alami vom Palästinensischen Zentrum für Menschenrechte. Vor der Selbstverwaltung, als israelische Soldaten noch überall im Gazastreifen präsent waren, sei der Umgang trotz aller Spannungen normaler gewesen. "Wie waren aneinander gewöhnt", meint al-Alami, "obwohl es natürlich immer Misstrauen und Abneigung gab. Aber heute besteht ein Hass, der ganz schnell zu tödlichen Reaktionen führt ..."

Nach den Übergriffen israelischer Militärposten im Westjordanland, bei denen gerade wieder eine völlig unbeteiligte palästinensische Autofahrerin erschossen wurde, hat die Armeeführung nun erstmals Versäumnisse bei der Führung der Soldaten eingeräumt. "Es gibt ein schwerwiegendes Problem mit der Botschaft, die wir an unsere Soldaten weitergeben", gibt ein Offizier für die Tageszeitung Ha'aretz zu Protokoll. "Wenn der Stabschef die Soldaten trifft und sie anhält, in diesem Konflikt kraftvoll mit den Palästinensern umzugehen, dann legen nicht wenige diese Worte unzutreffend aus - so, als ob sie die Erlaubnis hätten, stets gewaltsam zu agieren und selbst in Fällen zu schießen, in denen es das Reglement klar untersagt." - Untersuchungen sind nun eingeleitet worden. Aber die hektische Zeit vor den Wahlen am 6. Februar ließ es wenig geraten scheinen, Ergebnisse bekannt zu geben. So wechseln in Gaza weiter Abschnürung und Öffnung - ganz nach Gutdünken der Armee.

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