Im Meer des Missmuts

Stimmungskrise in Frankreich Zu Jacques Chiracs Machtverfall gesellen sich Zweifel an der Gesundheit des Präsidenten

Es ist eine Geburtstagsfeier am Rand von Paris, wohin die Vorortzüge gerade noch reichen und die Ghettos einem wundersamen Puppenstuben-Frankreich Platz machen, klein und ordentlich und ohne Bäckerei im Dorf, weil die Arbeit nicht mehr lohnt. Man begeht einen runden Jahrestag - den 40. - die Freunde aus dem Eintrittsjahr in die Ecole Normale Supérieure, der klassischen Eliteschule der Nation, sind gekommen, die Kinder auch schon dabei, Zeit für eine Bilanz. Das republikanische Frankreich besichtigt seine Unpässlichkeiten und Neurosen.

Jeder hat irgendwie sein Auskommen gefunden und seine Ideale verloren: der eine als Philosophieprofessor an der Sorbonne, brillant und schlecht bezahlt, der andere als Diplomat in Khartum, der dritte als Literaturdozent an einer Universität in Ostdeutschland. Man wählt die Kommunisten oder jedenfalls links, und beim Referendum zur EU-Verfassung im Mai war das "Nein" die logische Entscheidung, der "neoliberalen Bindung" wegen, auf die der Verfassungstext die Politik der europäischen Regierungen andernfalls ein für allemal festgelegt hätte. Alles ist erklärbar, wie damals in der "Normale-Sup", das Leben eine einzige Enzyklopädie, doch Frankreichs Bildungsbürger fühlen sich entwaffnet. Zu Boden gespart durch den öffentlichen Haushalt und beeindruckend einflusslos mit ihrem ganzen Wissen. Nicht einmal de Gaulles Idee von Frankreichs "Rang in der Welt", der Atombombe und der Unabhängigkeit von West und Ost taugt noch als Spielfeld.

Die bitterste Erkenntnis in dieser Runde liefert jemand, der nicht durch die Intellektuellenschmiede der Republik gegangen ist. "90 Prozent der Kinder in meinen Klassen haben keine Chance", sagt Sylvie Bertrand, eine Lehrerin aus Lyon, wo an den Grundschulen wie überall im Land zu wenig Lehrkräfte in zu großen Klassen arbeiten müssen. "Ich kämpfe um die letzten zehn Prozent und verliere, immer gegen die Eltern, die kein Interesse haben, und gegen die anderen Schüler und deren schlechten Einfluss." Wenigstens bleiben noch die Witze. Die aus der alten Schulzeit und einem anderen Frankreich.

Von der Brüsseler Bühne verschwunden

Citoyenne und Citoyen durchleben wieder eine ihrer Stimmungskrisen, keine eingeredete dieses Mal. Scheinbar wie in Wellen brandet der Missmut aus der privaten Sphäre gegen die politische Spitze und wieder zurück. Wortführer auf der Linken denken laut über eine grundlegende Verfassungsänderung nach, eine "VI. Republik", die de Gaulles Präsidialsystem von 1962 beenden soll. Der Herbst rollt durch das Land. Zum ersten Mal seit 50 Jahren habe Frankreich kein politisches Projekt mehr für Europa, erklärte dieser Tage öffentlich Valéry Giscard d´Estaing, früherer EU-Konventspräsident mit der Verantwortung für den im eigenen Land abgeschmetterten EU-Verfassungsvertrag und noch viel früher einmal französischer Staatspräsident. Die Feststellung zielte auf den amtierenden Präsidenten Jacques Chirac, den Giscard d´Estaing nie leiden mochte und den er sich dennoch einmal, Mitte der siebziger Jahre, als Premierminister gehalten hatte.

Die Zeiten würden schwierig, hatte Chirac seinen Franzosen vorausgesagt, als diese entgegen seinen Wünschen das Verfassungsprojekt im Mai versenkt hatten. Das muss man präzisieren: Schwierig, ja unmöglich ist es nun für französische Politiker geworden, vom Rednerpult aus mit der EU und Frankreichs angeblich führender Rolle in der Union zu werben. Die wirtschaftliche Realität, der die Franzosen ausgesetzt sind, besonders die Abwanderung von Unternehmen in das profitablere Osteuropa, haben nichts mehr mit dieser Jahrzehnte hindurch gepflegten Floskel gemein. Seit dem Referendum vom 29. Mai ist Frankreich von der Brüsseler Bühne praktisch verschwunden. Eine neue Regierung sollte patriotischen Sinn verbreiten und mit Rüpeleien gegenüber den EU-Kommissaren so etwas wie nationalen Eigensinn innerhalb der Union demonstrieren.

Diese Aufgabe hat sich aber als ebenfalls schwierig herausgestellt. Regierungschef Dominique de Villepin, früherer Außenminister und Generalsekretär im Elysée-Palast, musste nach kaum mehr als 100 Tagen im Amt bereits einige großspurige Erklärungen zurücknehmen: Den Anstieg des Ölpreises wollte de Villepin den Franzosen mit dem nonchalanten Gestus des global denkenden Staatenlenkers als naturgegebene Sache verkaufen, sah dann den öffentlichen Protest und konnte schließlich nur ein paar minimale staatliche Hilfen organisieren. Das neue Beschäftigungspaket - sein Herzstück ist die Lockerung des Kündigungsschutzes für Jugendliche - hat am schwindsüchtigen Wirtschaftswachstum des Jahres 2005 nichts ändern können. Als das IT-Unternehmen Hewlett-Packard die Streichung von 1.200 Arbeitsplätzen in Frankreich ankündigte, forderte de Villepin schließlich (nicht zu Unrecht) staatliche Subventionen zurück, die an das Unternehmen gezahlt worden waren, musste dann aber einsehen, dass dies nicht nur rechtlich riskant wäre, sondern auch Investoren in Frankreich abschrecken würde.

Die ärztlichen Bulletins des Elysée

Zur Ohnmacht seines Kronprinzen, den sich Jacques Chirac im Kampf mit seinem Rivalen, dem konservativen Parteichef Nicolas Sarkozy, als Regierungschef gewählt hatte - und der sich übrigens noch nie selbst den Franzosen für ein öffentliches Amt zur Wahl gestellt hat -, kommt der fortschreitende Machtzerfall des Staatschefs. Der hat bald wieder Geburtstag - 75 wird er im November, und immer noch lässt der Elysée-Palast das Gerücht von einer dritten Präsidentschaftskandidatur im Frühjahr 2007 kreisen, nur um Sarkozy Steine in den Weg zu legen und dafür zu sorgen, dass der Präsident für den Rest seiner Amtszeit als politischer Akteur ernst genommen wird. Doch der Monarch kränkelt, Anfang September musste der seit 1995 regierende Chirac für einige Tage ins Krankenhaus. Es war der erste medizinische Notfall in seiner Amtszeit, begleitet von einer Geheimnistuerei seiner Entourage, die alles unternahm, um die Schwere der Durchblutungsstörung im Gehirn zu verschleiern.

Der Elysée-Palast tat sich nie leicht mit den Krankheiten seiner Präsidenten. François Mitterrand hatte während eines Fernsehinterviews im Juli 1992 - er war damals ebenfalls 75 Jahre alt - beiläufig eine "seit ungefähr einem Jahr" andauernde Krebserkrankung erwähnt und damit die halbjährlichen ärztlichen Bulletins widerlegt, mit denen die französische Öffentlichkeit beschwichtigt wurde: Es gäbe nichts Bedenkliches über die Gesundheit des Staatschefs zu sagen. Mitterrand verstarb wenige Monate nach der Amtsübergabe an Chirac. Oder man denke an den Februar 1974, als die Präsidialkanzlei eine banale "Grippe-Erkrankung" des damaligen Staatschefs Georges Pompidou bekannt gab, dessen Zustand sich doch für alle sichtbar seit Wochen dramatisch verschlechtert hatte - Pompidou starb zwei Monate später.

Chirac versuchte nach seiner Entlassung aus dem Hospital alle Spekulationen über seine schwindende Gesundheit zu zerstreuen. Doch zu genau passt das Bild seiner physischen Schwäche zum sich verfestigenden Eindruck eines schleichenden Machtverfalls. Ende Oktober soll der Präsident beim EU-Gipfel in Großbritannien auftreten an der Seite des Noch-Kanzlers Schröder oder eines neuen deutschen Regierungschefs - auf jeden Fall als Europas Auslaufmodell.


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