Was hätten die EU nur getan, wenn die Türken Nein zur Änderung ihrer Verfassung gesagt hätten? Wahrscheinlich dies: Schwieriger Prozess, Alternative zur stetigen Annäherung natürlich nicht vorhanden, man werde im Geist der Zusammenarbeit und so weiter die Gespräche mit Ankara fortsetzen. Dem Chor der Sankt-Nimmerleins-Sänger in Brüssel wäre schon etwas eingefallen, um die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei weiter zu zerreden. Jetzt haben die Türken aber Ja gesagt. Und das Erstaunliche ist: Der Gedanke an einen EU-Beitritt hat keine Rolle gespielt, als sie ihren Stimmzettel in die Urnen warfen. Fünf Jahre Dehnübungen im Brüsseler Turnsaal haben die Türken frustriert. Um den Beitritt betteln? Das muss nicht se
sein, meint eine Mehrheit der Türken. 26 geänderte Verfassungsartikel haben natürlich Einfluss auf die jeden Herbst vom EU-Erweiterungskommissar erstellte Diagnose zum Stand der Dinge in der Türkei, ebenso wie das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Mordfall Hrant Dink. Das Verhandlungskapitel 23 – Justiz und Grundrechte – ist dabei noch nicht einmal eröffnet.Nicht nur frömmelnde BauernDas Plebiszit vom 12. September war zuerst eine innertürkische Angelegenheit und wird vielleicht einmal zu den wichtigsten Voten in der Geschichte der türkischen Republik gezählt werden. Erstmals haben sich die Wähler über erbittert ausgefochtene Parteigrenzen hinweg hinter ein demokratisches Projekt gestellt. 46,6 Prozent hatte die konservativ-islamische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) von Premier Erdogan bei der Parlamentswahl 2007 verbucht, die seinerzeit als Protestvotum gegen den politischen Einfluss von Armee und Justiz galt. Nun hat die AKP für ihre Verfassungsinventur elf Prozent mehr erhalten. Es werden nicht nur Kopftuchträgerinnen und frömmelnde Bauern vom Land gewesen sein, die für Erdogan gestimmt haben. 58 Prozent wollten einen großen Schritt riskieren, um fortgesetzter Gängelung durch die bislang sakrosankten Eliten des Kemalismus zu entgehen.Nach Ansicht der meisten Kommentatoren in türkischen Medien hat das Lager der AKP seinen Zuwachs der MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) zu verdanken. Erdogan habe es geschafft, diese kurden- wie EU-feindliche Partei durch das Referendum zu spalten. Zu groß war unter älteren MHP-Anhängern der Hass auf die Putschgeneräle von 1980, die Tausende linke wie rechte Aktivisten einsperrten, an 50 ein Exempel statuierten und sie hinrichten ließen. Eine Wahlanalyse in den Hochburgen der Rechtsextremen stützt die These vom wandernden Wähler, der von Rechtsaußen in die Mitte unterwegs war.Es gab zudem genug liberale, säkular gesonnene Türken in den Großstädten, denen nicht einleuchten wollte, warum sie aus reiner Gegnerschaft zu einer religiös konservativen Regierung die Verfassung der Generäle stützen sollten, wie es die Opposition forderte. „Nein zur Gesinnung der AKP – Ja beim Referendum“, so der Ruf der kleinen, im Parlament nicht vertretenen linken Partei der Gleichberechtigung und Demokratie (EDP). Die große, einst sozialdemokratische Republikanische Volkspartei CHP und ihr neuer Generalsekretär Kemal Kilicdaroglu fanden nicht den Mut zu solcher Klarheit – die Wähler hatten ihn.Im Unterschied zu den verquasten, halb frohen Kommentaren aus den EU-Hauptstädten formulierte Barack Obama: Die Türkei habe bewiesen, dass sie eine lebendige Demokratie sei. Das ist der Punkt. Mit dem über die Regierungspartei hinausweisenden Votum haben auch Gegner von Premier Erdogan ihren Einsatz in der nun weiter laufenden Partie gesetzt: Das Zurückdrängen des Militärs aus der Politik und die größere Transparenz bei der Bestellung von Richtern als Chance für eine wirkliche Demokratisierung zu begreifen. Es gibt einen Auftrag an die AKP wie die Opposition, eine vollkommen neue, zivile Verfassung für die Türkei zu schreiben. Erdogan hat das versprochen. Garantien gibt es nicht.Eine Parallel-DebatteRichtig ist, die geänderte Konstitution konsolidiert vorerst den Status einer religiös grundierten Regierung in einem weltlich definierten Staat. Dank ihrer Majorität im Parlament kann die AKP nun über zusätzliche Richter im Verfassungsgericht wie über die Präsenz im Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte entscheiden. Sie kann damit den politischen Standort der höchsten Justizorgane des Landes auf Jahre hinaus festlegen. Nichts anderes tut ein US-Präsident, wenn er vakante Sitze im Supreme Court besetzt. Nichts anderes würde die oppositionelle CHP tun, sollte sie nach den Parlamentswahlen 2011 wieder an die Macht kommen.Richtig ist auch, dass die Stimmung in der Türkei nach dem Verfassungsvotum nicht auf die große liberale Zäsur hindeutet. Anstelle der Arbeit an einem zivilen Grundgesetz, die Regierungspolitiker noch für den Tag nach dem Referendum ankündigten, hat eine Paralleldebatte über die Einführung eines Präsidialregimes begonnen, genährt durch Andeutungen Tayyip Erdogans und Spekulationen seiner Gegner. Ein neuer Versuch, auf die kurdische Minderheit zuzugehen, ist nicht in Sicht. Aufmunterung aus der EU bräuchte die Türkei jetzt mehr denn je, keinen christlich verbrämten Kleingeist.