Mit dem Skalpell ans Kuchenbüfett

Litanei vom Abstieg Länger arbeiten, weniger verdienen - beim Sozialverschnitt sind Frankreichs Gaullisten nicht viel origineller als Deutschlands Sozialdemokraten

Die bürgerlich-konservative Regierung von Präsident Chirac und Premier Raffarin will den Pfingstmontag streichen, nach der Rente auch die Krankenversicherung in die Mangel nehmen und hat zur Strafe schon einmal die Tabaksteuer heraufgesetzt. An der Seine wird ein ergreifendes Drama gespielt, die Nation im Niedergang - mit dem Wort "Le Déclin"(*) ist der Herbst des Missvergnügens überschrieben.

Man muss sich das wahrscheinlich so vorstellen: Auf einem Büfett-Tisch liegt ein Kuchen, der ganz manierlich aussieht, die Schlange mit den Gästen, jeder einen Teller vor der Brust, steht auf der einen Seite, Jean-Pierre Raffarin auf der anderen, alles ist wahnsinnig gediegen, und dann muss der Franzose schneiden und verteilen und wieder schneiden, immer schön im Uhrzeigersinn.

"Für mich nur ein kleines Stückchen, danke sehr", sagen die Gäste, lächeln recht falsch und stellen sich hinten wieder neu an. Der Mann am Büfett ächzt, es wird nicht reichen, eine Blamage erster Klasse und so sicher wie das Amen in der Kirche - bis, ja bis wirklich das letzte Stück Kuchen auf dem Tisch liegt, aller Anonymität entblößt und fast schon obszön. "Für mich nur ein kleines", murmelt Raffarin, "danke sehr", und packt selbst zu. Dann schreckt er hoch in seinem Premierministerbett, alles wieder nur geträumt, aber lange hält er das nicht mehr aus.

Monsieur Dupont macht schlapp

Alles läuft falsch in Frankreich. In Deutschland übrigens auch, selbst die Italiener sehen ein, dass es in ihrem Land so nicht mehr weiter geht: "Es kann nur verteilt werden, was da ist." Also Renten runter, Steuern rauf, Feiertage weg, jeder Bürger ein Opferlamm. "Malthus reloaded", heißt das Rezept, das durch Europas Regierungsstuben gereicht wird. Schrumpft die Zahl der Werktätigen und wächst das Heer der untätigen Rentner, ruhen die Arbeitslosen in der Hängematte des Sozialstaats und studiert der Student endlos und ohne Sinn, ist höchste Zeit für die Umkehr.

Der britische Nationalökonom Thomas Robert Malthus (1766-1834) empfahl seinerzeit Enthaltsamkeit und eine Heraufsetzung des Heirats- und Gebäralters. Die Bevölkerung wachse geometrisch (2, 4, 8, 16), rechnete er vor, die Bodenerträge aber nur arithmetisch (1, 2, 3, 4). Heute schwingen die Regierungen zur Rettung des Volkskuchens die Peitsche und lassen länger arbeiten, wo noch Arbeit ist. Die anderen müssen sich bescheiden. "Aufwertung der Arbeit", nennt das Jean-Pierre Raffarin, der gaullistische Premier, denn Arbeit ist ein kostbares Gut.

Der Malthusianismus ist kein unbekannter Gast in Frankreich. Die scheinbare Begrenztheit von landwirtschaftlich nutzbarem Boden und Familienglück hatte schon vor 200 Jahren Ökonomen wie Bischöfe gequält. Die einen, weil sie feststellen mussten, dass Frankreich - das große Land der Bauern und 380 Sorten Käse - sich in Wirklichkeit nie selbst ernähren konnte und auf den Import von Getreide und Vieh angewiesen war; die anderen - die Geistlichen - weil sie sahen, dass Madame und Monsieur Dupont keinen Ehrgeiz beim Kinderzeugen an den Tag legten, sondern allerhand unkatholische Mittel ersonnen, um unerwünschte Geburten zu vermeiden. Um 1800 war Frankreich mit 27 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste Land Europas (Russland ausgenommen), dann wurde es schnell von den Nachbarn überholt; in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchs die französische Bevölkerung um 30 Prozent, der europäische Durchschnitt lag bei 50, in Großbritannien bei 100 Prozent. Ausgerechnet in der Hochzeit des Industrialismus machte der Franzose schlapp.

Die Armen sind selbst schuld, wenn sie verhungern, sie müssen eben nur so viele Kinder in die Welt setzen, wie sie auch ernähren können, war aus dem Großbürgertum zu hören. "Man ermuntert besser die Menschen zu sparen, als Kinder zu machen", sagte der treffliche Jean-Baptiste Say, ein Malthus-Schüler. Damals schon wurde den Franzosen wirtschaftliches Minimaldenken aufgeschwatzt, die Mär vom Kuchen, der verteilt wird, aber eben leider begrenzt sei. Der Malthus von 2003 redet eine quasi naturgegebene Knappheit sozialstaatlicher Ressourcen herbei und macht die Arbeitslosen für ihre Lage und die des Staates verantwortlich - wer wirklich Arbeit will, muss nur flexibel genug sein, keine Kilometer scheuen, keinen Billiglohn, keine Zeitverträge, keinen minder qualifizierten Job. Was um 1850 die Idee von der nicht zu ernährenden Bevölkerung war, erledigt heute der Premierminister mit dem Argument der unfinanzierbaren Renten und unaufhaltbaren, alles verschlingenden Globalisierung. Allerdings wollte der Knappheitswahn schon damals nicht allen einleuchten.

Emile Zola, der Miserenschreiber, überführte den Malthusianismus als abgekartetes Spiel von Hobby-Ökonomen und Fabrikbesitzern. Nicht das Bevölkerungswachstum und viele hungrige Münder seien der Grund für das Elend der unteren Klassen, sondern die ungerechte Verteilung des Erwirtschafteten. Zolas Kapitalisten predigten ihren Arbeitern Geburtenbeschränkung und förderten zugleich deren Ausbeutung. Um das Elend zu beenden, so eine Lehre aus Zolas Roman Fruchtbarkeit, müsse die "Arbeit" ihren wahren Stellenwert erhalten. Da wären wir wieder bei Regierungschef Raffarin - aber anders, als sich das der Gaullist wohl denkt.

Nur eine Schocktherapie

Dem schwarzen Kater geht es nicht gut in diesen Tagen. Mit hochgezogenen Schultern schleicht der Premier durch Parlamentsgänge und Fernsehstudios, was seinen großen runden Rücken noch mehr betont. 33 Prozent, schreiben die Zeitungen, so viel ist Raffarin in der öffentlichen Gunst noch wert. 35 sei eine "politisch sensible" Schwelle, sagt er selbst. Als Raffarin vor eineinhalb Jahren antrat, lag er bei 60. Die Abendnachrichten zeigen ihn bisweilen im Büro des Jacques Chirac, auf einem kleinen Stuhl sitzend und den massigen Rücken nach vorn geschoben, aufmerksam den Ausführungen des Präsidenten lauschend. Für ihn muss er die Kärrnerarbeit tun und gewissermaßen auch das politische Sittengemälde des 19. Jahrhunderts weiter malen. Die Rentenreform war sein großer Erfolg, vor allem die Angleichung der Beitragsjahre im öffentlichen Dienst an jene der Privatwirtschaft, doch jetzt steckt Raffarin im Abwärtssog der eigenen Werbestrategie. Malthus und der Malthusianismus - so befand Emile Zola hellsichtig - seien Vorläufer des modernen Pessimismus.

Seit Herbstbeginn nämlich hat Frankreich eine Debatte über den Abstieg des Landes, die sich gewaschen hat. Rechte wie Linke reden sich in einen dunklen Rausch über das defizitäre Land, das arbeitslose, das ideenlose (keine Philosophen mehr, sagen die Philosophen), das mitleidlose (keine Zeit für die Alten, die während der Hitze im Sommer wegstarben). Und wenn die Abstiegsdebatte auch nur ein Produkt der Pariser Pamphletschreiber ist, wird sie doch bereitwillig aufgenommen. "Le déclin" ist ein Begriff, der sich immer wieder gut verkauft, erst recht natürlich in Zeiten der Spar- und Knappheitsrhetorik.

Die Litanei des Abstiegs, die der Anwalt Nicolas Baverez im September mit seinem Buch La France qui tombe eröffnete, lässt keinen Gemeinplatz der alten bonapartistisch angehauchten Rechten aus: Frankreich habe seit dem 19. Jahrhundert im Gegensatz zu den anderen europäischen Demokratien Schwierigkeiten, sich den großen wirtschaftlichen und machtpolitischen Veränderungen anzupassen, heißt es (das üble Erbe der Revolution von 1789); seit den achtziger Jahren sei Frankreich im freien Fall (Wahlsieg des Sozialisten Mitterrand!), unfähig zur Modernisierung seines Staates und außenpolitisch abgeschrieben; nur eine Schocktherapie wie 1958 (Machtübernahme von General de Gaulle) könne das Land wieder auf Kurs bringen.

"Der französische Abstieg ist nicht nur auf die Auslagerung der Produktionsbasis des Landes beschränkt", schreibt Baverez düster, "er entspricht einem starken politischen Trauma. Die Krise ist nicht nur wirtschaftlich, sie ist intellektuell, moralisch, geistig und trifft den Kern der Identität ...".

Unangenehm für die Regierung in Paris ist besonders, dass die "Déclinisten" aus dem eigenen Lager kommen, mithin Wirtschaftskurs und Budgetpolitik kritisieren, wie es bislang nur dem Chef des Unternehmerverbands, dem Baron Antoine de Seillière, vorbehalten war.

Freiheit, Gleichheit - Kettenhemd

Doch wie klein können die Kuchenstücke noch geschnitten werden? Raffarin spricht gleich von einer neuen Republik, in der auch neu gedacht werden muss. Möglicherweise unterstellt man dem gelernten Werbefachmann aus der Poitou-Charente im weiten Südwesten Frankreichs zu viel philosophische Unruhe, doch der Wandel in seiner Rhetorik ist unverkennbar. Weil die "Déclinisten" den Staat, seinen Staat, so wie er ihn regiert, unter Beschuss nehmen, und die Wählerschaft ohnehin unmutig geworden ist, wertet der Premier die historische Triade der Republik - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - einfach um. "Freiheit" wird plötzlich zum Freibrief, das Kettenhemd des marktwirtschaftenden Edelmannes. "Arbeit kann eine Befreiung sein", sagt er ungeniert, oder auch: "Unsere Freiheit ist nicht etwa die Freiheit, Cannabis zu rauchen." Die Freiheit in Frankreich ist auch eine Risikoentscheidung. Ein Sturz auf der Straße oder ein Skiunfall könnten morgen schon nicht mehr gleich von der Krankenversicherung gedeckt werden, überlegt der Regierungschef laut.

Die "Gleichheit" wiederum gibt Raffarin nur als eine Art Lunchpaket beim Eintritt in die Gesellschaft mit. "Gleichheit" sei eine Startlinie, doziert er, sie regele "das Leben, die Zufälle und Verdienste". Ähnlich bodenständig fällt sein Verständnis der "Brüderlichkeit" aus. "Brüderlichkeit ist keine staatliche Abgabe, sondern ein Engagement", formuliert er - will heißen: Solidarität ist ein Privatissimum, das jeder besser mit sich selbst ausmacht, zuallererst in der eigenen Familie.

Natürlich verstehen Raffarin und seine Minister die Umwertung der Republik auch als große Revanche für 1968 und die so lange währende gesellschaftliche Verwirrung, welche die Proteste der Studenten seinerzeit gestiftet hatten. Das Loblied der sozialen Enthaltsamkeit beeindruckt die Franzosen allerdings wenig. Raffarins Rentenreform zum Beispiel - so stellt Lionel Stoleru fest, einer der wenigen altgedienten, tatsächlich politisch Liberalen in Frankreich - würde weniger als politischer Erfolg, denn als soziale Niederlage empfunden: "Das Frankreich von oben drückt, kraft seiner politischen Mehrheit, dem Frankreich von unten ein System auf, das dieses nicht wollte und immer noch nicht will."

Malthus! riefen die Konservativen

Seit Chiracs Wiederwahl im Mai 2002 - der Gegen-Mai" zum Mai ´68 -, erfüllt von der "Law and order"-Politshow, die jeden Tag aufs Neue mit der Kriminalität in den Vorstädten aufräumt und Parkgaragen wie U-Bahnen landauf landab sicher macht, sind die Franzosen doch von der Wirklichkeit eingeholt worden. Offiziell 2,4 Millionen Arbeitslose gibt es, 9,7 Prozent der aktiven Bevölkerung; und die Zahl klettert ungerührt seit bald zwei Jahren und wird, so schätzen Wirtschaftsbeobachter, erst im Juni 2004 mit 10,1 Prozent ihren Höhepunkt erreichen. Die Malaise ist perfekt, alles dreht sich im Kreis - es kann nur verteilt werden, was da ist. Der Kuchen, den die Volkswirtschaft backt, ist immer zu klein.

Ist er das tatsächlich? Die Einführung der 35-Stundenwoche durch die Linksregierung von Lionel Jospin - "Malthus!", riefen damals kokett die Konservativen - und die Beschäftigungsinitiativen für arbeitslose Jugendliche haben allein im Jahr 2000 entscheidend zur Schaffung von einer halben Million Jobs in Frankreich beigetragen. Das sagt nicht die Sozialistische Partei, sondern das nationale Statistikamt INSEE in seinem jüngsten Jahresbericht. Mehr noch: "Die Einführung der 35-Stunden-Woche hat den Unternehmen eine relative Senkung der Lohnstundenkosten gebracht" - durchschnittlich 24,1 Euro statt 26 Euro zuvor. Wenn Frankreich einen "Abstieg" erlebt, mag er mit dem Wahlsieg der Konservativen begonnen haben. Für Jean-Pierre Raffarin wird das Geschäft des Kuchenschneidens nicht eben leichter.

(*) wörtlich: das Absinken


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