Leute wie Etienne Chouard sind wahrscheinlich die Gefährlichsten. Die Politiker aus den gegnerischen Lagern kennt man alle seit zwei, drei Jahrzehnten. Man weiß, was sie denken, wie sie sprechen, wann sie beginnen, ihre Meinungen zu ändern. Unverdächtige Leute wie Chouard aber - einen Rechtskundelehrer an einem Gymnasium in Marseille, die kein Parteibuch haben, aber einen gesunden Menschenverstand - sind unberechenbar. Genau vier Wochen vor dem Referendum über die EU-Verfassung in Frankreich sind sie daran schuld, dass die Nein-Stimmen von Umfrage zu Umfrage wachsen und sich wie ein gewaltiges Unwetter über den Köpfen der Politiker in Regierung und Opposition zusammenballen, die nun verzweifelt die große Europaliebe predigen.
Etienne Chouard tat, was man eben macht, wenn man über etwas debattieren möchte, das alle angeht, und noch dazu Lehrer ist: Er stellte seine Ansichten zum "Vertrag über eine Verfassung für Europa" ins Internet. Das mittlerweile auf mehr als 20 Seiten angewachsene Pamphlet, das Chouard entsprechend der Anregung anderer Internet-Leser umschreibt und verbessert, macht seit April unter Zehntausenden von Franzosen die Runde. "Glauben Sie mir nicht, ich bin keine Rechtsautorität", warnte er dieser Tage seine Leser, halb entsetzt von der Kettenreaktion, die er ausgelöst hat. Das Fernsehen ist oft bei Chouard, die Zeitungen schreiben über ihn, sein Name taucht auf, wenn Politiker bei ihren Kampagnenauftritten für die EU-Verfassung werben wollen. "Was antworten Sie auf den Einwand von Etienne Chouard, der sagt...?" - das ist ein unschlagbarer Slogan in Zeiten der gelenkten Eurodemokratie, wenn Staatschef Jacques Chirac und Oppositionsführer Francois Hollande zur Abstimmung am 29. Mai aufrufen, aber gleichzeitig klarmachen, dass die Franzosen nur die Wahl für ein Ja zur Verfassung haben.
Die Schmerzen des Staatschefs
Frankreichs Demokratie steht wieder an einem Wendepunkt. Die Politiker sind entwaffnet von der Kritik der Bürger am sogenannten EU-Verfassungsvertrag, den kaum jemand gelesen hat, der aber nun auf den Scheiterhaufen soll als Inbegriff eines jahrelangen wirtschaftsliberalen Ausverkaufs im Lande. Eine Gelegenheit, um gleich auch den unpopulären Premierminister Jean-Pierre Raffarin aus dem Amt zu jagen.
Die Verfassung sei unverständlich, parteiisch und "abgeriegelt" gegen Veränderungen wie ein Torschloss, behauptet Chouard, der Volkstribun wider Willen vom Marcel-Pagnol-Gymnasium in Marseille. "Eine Verfassung wird dem Volk nicht von den Mächtigen aufgezwungen, sondern durch das Volk selbst errichtet", schreibt er stellvertretend für viele Franzosen, die ähnlich denken: "Dieser Text betoniert die europäischen Institutionen, die seit 50 Jahren von den Mächtigen, die zugleich Richter und Partei sind, fortgeschrieben werden." Ohnmächtig verfolgt die Regierung den Anstieg der Nein-Stimmen und bekundet ihre "Fassungslosigkeit", weil niemand mehr die Phrasen vom Aufbau eines "starken Europas" hören will.
Innerhalb weniger Wochen ist so aus dem üblichen Polittheater um ein Plebiszit und die ein solches Votum begleitenden parteitaktischen Spielereien die sehr grundsätzliche Frage der Repräsentation der Regierten durch die Regierenden geworden. "Ich verstehe es nicht", sagt Jacques Chirac, der ratlose Staatschef, während einer direkt übertragenen Fernsehdebatte mit Jugendlichen im Elysée-Palast, die Mitte April eigentlich der Auftakt für seine Verfassungskampagne sein soll. Der Pessimismus der Jugend, so klagt der Präsident, gegenüber Europa bereite ihm Schmerzen.
Ein Gefühl der Minderwertigkeit
Scheitert das Referendum, wird nichts mehr sein wie vorher in der französischen Politik. Chirac wäre blamiert in Europa; eine neue Regierung müsste einen Ausweg aus der Blockade suchen, die französische Linke sich völlig neu ordnen. Gelingt es dagegen dem Pro-Verfassungslager, die Stimmung zu wenden und einen knappen Sieg einzufahren, was bei 52 bis 58 Prozent Nein-Stimmen in den Umfragen schwierig, aber immer noch denkbar scheint, wird die Pariser Polit-Maschine über den allgemeinen Unmut hinwegrollen. Das Referendum über den Maastricht-Vertrag im September 1992 hat es gezeigt. Obwohl damals gerade einmal 51,04 Prozent der Franzosen den Vertrag über eine Wirtschafts- und Währungsunion gebilligt hatten, fuhren Frankreichs Regierungen - die sozialistischen wie die konservativen - unbeeindruckt weiter auf den Gleisen einer schizophrenen Integration zwischen massiv subventionierter Landwirtschaft und unbeschränktem Binnenmarkt. Ein Fehler, der sich jetzt rächt.
Mehr als zwölf Jahre, zwei Erweiterungsrunden (1995 und 2004) und drei EU-Verträge (Amsterdam 1999, Nizza 2003, die Verfassung 2004) später hat sich Frankreichs Spaltung in ein Lager der Euroskeptiker und eines der passiven EU-Anhänger oder tatsächlich überzeugten "Unionisten" nur verfestigt. Dabei ist diese Debatte über Europa keineswegs neu. In keinem der sechs Gründerstaaten der früheren EWG wurde darüber mit mehr Pathos und innenpolitischem Kalkül gestritten als in Frankreich. Vom lähmenden Streit über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) Anfang der fünfziger Jahre über die ersten Direktwahlen zum Europaparlament 1984, als Frankreichs Wähler gleich einmal zehn Rechtsextreme des Front National (FN) ins Straßburger Parlament schickten, bis zur Hochzeit der französischen Europapolitik Anfang der neunziger Jahre mit dem Kommissionspräsidenten Jacques Delors - stets war Europa eine Chiffre für den Fortbestand nationaler Größe und politischer Gestaltungskraft. Das konnte nicht gut gehen.
Heute steht man im Windkanal der Globalisierung und ist in Brüssel nur mehr mit einem zweitrangigen EU-Kommissar für Verkehrsfragen präsent, misstrauisch beäugt von acht Neu-Mitgliedern aus Osteuropa, bei denen die US-kritische Politik des französischen Präsidenten für Unbehagen sorgt. Das beliebte Thema der Pariser Politik von der eigenen Rolle als "Motor Europas" erscheint unter diesen Umständen ein schlichtes Märchen. Eher bestärkt die EU-Verfassungsdebatte viele Franzosen in einem Gefühl latenter Minderwertigkeit: Der Verfassungsvertrag legt bloß, wie sehr doch der Einfluss der Grande Nation geschwunden ist.
Die Krise der demokratischen Vertretung, die Frankreichs Bürger gerade so deutlich spüren, hat zwei Facetten: Immer noch geht es um die Präsidentschaftswahl vom Mai 2002 und jenen Sieg von Chirac über den FN-Führer Le Pen mit den Stimmen der Linken - ein Sieg, den ein Großteil der Franzosen in Wahrheit nie akzeptiert hat. Doch ebenso hat sich eine enorme Kluft zwischen der politischen Klasse aufgetan, die von einem "humanistischen Europa" und von "demokratischen Werten" plappert, und den Franzosen, die dabei ganz anderes hören: die Freigabe zum Abschuss der öffentlichen Dienste bei Transport, Gesundheit oder Energieversorgung und die Abwanderung von Unternehmen in die Billiglohnländer. Allein 200.000 Arbeitsplätze im französischen Dienstleistungssektor sollen davon bis 2010 bedroht sein, heißt es in einer neuen Studie des Senats. Diese Prognose ist nur ein weiteres Puzzlestück, das die Verfassungswelt und die Welt der Franzosen heftig auseinander driften lässt. "Wir haben keine Angst", schleuderten die doch so umsichtig ausgewählten Jugendlichen bei der erwähnten Fernsehdebatte im Elysée-Palast ihrem Präsidenten entgegen, "wir erleben einfach nicht dieselbe Realität".
Ein Parteitag der Abrechnung
Schiere Panik macht sich nun unter den Politikern breit. Mit Volldampf steuert Frankreich auf das Referendum zu wie auf einen Eisberg, der immer größer und fürchterlicher wird, je näher der 29. Mai rückt. Bei den Sozialisten sind alle Hemmungen entschwunden. Die Verfassungsgegner - Laurent Fabius, Henri Emmanuelli, Jean-Luc Mélanchon - sind ihrem Parteichef Hollande ohne Zögern in den Rücken gefallen, seit klar wurde, dass die Mehrheit der Wähler mit "Nein" stimmen könnte. Ein früheres Agreement für eine Waffenruhe gilt nicht mehr, denn Fabius will Hollande verdrängen, um sich die Präsidentschaftskandidatur für 2007 zu sichern. Seine anderen, tatsächlich links stehenden Mitstreiter Emmanuelli und Mélanchon verspüren wenig Lust, noch einmal wie bei der unglückseligen Präsidentschaftswahl 2002 "komplett neben den Ansichten der Franzosen zu liegen". Ein Parteitag der Abrechnung steht nun in jedem Fall nach dem Referendum an.
Bei den Konservativen sieht es kaum besser aus. Innenminister Dominique de Villepin, ein Vertrauter Chiracs, hat bereits öffentlich Premier Raffarin demontiert. Chiracs großer Rivale, Parteichef Nicolas Sarkozy, hofft sehr wahrscheinlich auf eine Niederlage des Präsidenten; auch er hat wie Fabius die Wahlen 2007 im Auge. Spät erst hat sich Jean-Marie Le Pen in die Kampagne gegen die Verfassung eingeschaltet. Alles läuft schließlich nach Plan für die extreme Rechte. Und dies ist wohl die verstörendste Erkenntnis dieser Wochen: Das Nein gegen die EU hat viele Gesichter in Frankreich, aber kein gemeinsames Ziel. Le Pen wäre die Wiederaufrichtung der Schlagbäume recht, Marie-George Buffet, die Parteichefin der Kommunisten, will nur das Europa des schrankenlosen Wettbewerbs aufhalten. Die Rückeroberung der Demokratie, die Frankreichs Linkspolitiker nun ausrufen, soll mit dem Tag des Referendums beginnen. Siegen die Neinsager, muss die Verfassung eben neu verhandelt werden.
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