Immer noch traumatisiert von der Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen im April/Mai und den anschließenden Parlamentswahlen im Juni 2002 suchen Frankreichs linke Parteien das Heil in der Fusion. Doch die Kommunisten sind nach den schlechtesten Wahlergebnissen, die sie jemals während der V. Republik erreichten, noch immer schwer angeschlagen, während die Sozialisten nach einem Kurs suchen, der ihnen das Label einer "sozialliberalen" Partei verschaffen könnte.
Der große Umsturz wird im Rathaus von Vénissieux geplant, einem Arbeitervorort von Lyon, wo Renault seine Lastwagen bauen lässt und die Rhône vornehm eine Kurve schlägt, noch in Erinnerung schwelgend an den Glanz der Innenstadt und das zweite Arrondissement, wo Lyons Großbürger seit Jahrhunderten ihr Geld stapeln. Im Rathaus von Vénissieux sitzt André Gerin und kneift die Augen zusammen zu zwei Schießscharten, wenn er zum Wesentlichen kommt. Zur "selbstverwalteten Republik" zum Beispiel und zur "Macht", die man der Basis der Gesellschaft geben müsse - ein Schlachtruf aus den frühen Siebzigern, den der Bürgermeister und Abgeordnete Gerin auf den Tisch hievt wie einen sorgfältig gepflegten Vorschlaghammer. Denn in Vénissieux ist nicht die Zeit stehen geblieben, nur ein Kreis hat sich wieder geschlossen - der vom Aufstieg und Fall der Linken in Frankreich.
Lionel Jospin - eine Art Fahrerflucht
Bald anderthalb Jahre sind seit der verheerenden Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen vergangen, doch die französische Linke ist immer noch völlig ratlos über ihre Zukunft. Wie nach jeder ordentlichen Sternenexplosion gibt es unter Sozialisten, Kommunisten und Grünen die zentripetalen und die zentrifugalen Kräfte - jene, die von der Gründung einer neuen großen Linkspartei träumen, und andere, wie den Kommunisten André Gerin, der für Auszeit und Selbstfindung plädiert und deshalb in seiner Partei das Etikett eines "Orthodoxen" trägt. Von denen gibt es allerdings nicht allzu viele, "ich bin in der Minderheit", sagt Gerin selbst. Der Trend geht eindeutig in Richtung von Parteienfusion und großen Allianzen, weil eben auch das Loch, das der Wahlabend des 21. April 2002 gerissen hat, so fürchterlich groß und schwarz ist.
Es war eine lächerliche Niederlage für die damalige Linksregierung und ihren Premier, den Sozialisten Lionel Jospin, der Staatspräsident werden wollte - und eine unmögliche Stichwahl, vor der die Franzosen plötzlich standen: Der Chef des rechtsextremen Front National (FN), Jean-Marie Le Pen, hatte den spröden Protestanten Jospin mit etwas mehr als 16 Prozent der Stimmen gerade noch aus dem Rennen werfen können und zog in die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen gegen den Gaullisten Jacques Chirac ein: Rechtsextrem gegen Rechts. Die Niederlage Jospins schon in der ersten Runde war so absurd, weil es sie eigentlich gar nicht geben konnte, meinte später Jean-Christophe Cambadélis, einer der Wahlkampfmanager des sozialistischen Premiers: Die Bilanz der fünf Jahre amtierenden Linksregierung war durchaus respektabel, der Kandidat Jospin der einzig logische Herausforderer Chiracs.
So waren es grobe taktische Fehler, die zum Ausschluss der Linken bei der Stichwahl um das höchste Amt im Staat führten. Jospin selbst trug die Hauptverantwortung für diese historische Niederlage, weil er die Aufsplitterung seiner Linkskoalition auf nicht weniger als vier Kandidaten zuließ (Robert Hue für die Kommunisten, Noel Mamère für die Grünen, Christine Taubira für die "Radikalen", Jospin für den PS) und sich nur auf die vermeintliche Stichwahl gegen Chirac konzentrierte.
Jospin beging dann eine Art Fahrerflucht. Noch am Wahlabend kündigte er tief verletzt seinen Rückzug aus der Politik an und verschwand von der Bildfläche. Genau deshalb sitzt das Trauma des 21. April noch heute so tief: Das Modell der Linkskoalition von Sozialisten, Kommunisten und Grünen war zerstört, und die "lächerliche Niederlage" blieb zugleich unerklärt. Weil Lionel Jospin schweigt, haben eine Reihe mehr oder minder inspirierter Autoren aus den Reihen der Sozialisten die Aufklärungsarbeit übernommen, allen voran Jospins Ehefrau. Wirklich schlau ist keiner geworden.
François Hollande - kein Steuermann
Von Vénissieux aus betrachtet, heißt das Gebot der Stunde deshalb "Zurück zu den Anfängen!" Eine neue Wahlplattform der Linken zu schreiben, sei nicht eben seine erste Sorge, erklärt André Gerin, der im Verein mit seinem Parlamentskollegen Maxime Gremetz und mit Claude Danglot, dem Vorsitzenden der Kommunisten im Pas-de-Calais, die "Orthodoxen" in der Partei anführt. "Wir müssen eine Form finden, um autonom neben der Sozialistischen Partei zu existieren", sagt er und zieht einen Schlussstrich unter die Zweckehe, die 1981 mit dem Wahlsieg des Sozialisten François Mitterrand und der Bildung der ersten sozialistisch-kommunistischen Regierung in Frankreich seit den Nachkriegsjahren begann: "Wir kommen aus einer 22 Jahren langen Abfolge von Regierung, Opposition und wieder Regierung heraus und sind doch nur bei der Anpassung an den Kapitalismus stehen geblieben."
Die "Orthodoxen" haben bereits verabredet, eine eigene "Struktur" innerhalb der Partei und gegen ihre Direktion zu gründen. "Mondän" seien die Führer der linken Parteien, sagt Gerin, keinen Bezug zur Welt der Arbeiter hätten sie mehr. Mit Marie-George Buffet, der KP-Vorsitzenden, geht er dennoch weniger streng ins Gericht. Auch wenn sie, wie zuletzt Ende Juni, ganz offiziell François Hollande, den Vorsitzenden der Sozialisten, am Parteisitz empfängt und zwei Stunden hindurch ohne jedes Ergebnis die Möglichkeit eines neuen Bündnisses auslotet. "Das logische Ende von fünf Jahren gescheiterter Linksregierung unter Jospin", meint der Bürgermeister Gerin und kneift wieder gefährlich die Augen zusammen.
Die Sozialisten also. Welchen Kurs die ehemalige Regierungspartei einschlägt, wird für die Zukunft der Linken in Frankreich ebenso entscheidend sein wie die Richtungswahl der Kommunisten. Alle anderen politischen Kräfte - Grüne, Trotzkisten, Globalisierungsgegner außerhalb der Parteien - werden sich danach richten. François Hollande, der treue Adlatus des gescheiterten Jospin, mag beim Parteitag in Dijon Mitte Mai mit 90 Prozent der Stimmen von der Parteibasis im Amt des Vorsitzenden bestätigt worden sein, die Richtung des PS bestimmt er nicht allein. Ein stiller Machtkampf ist im Gang zwischen den früheren Premierminister Laurent Fabius und dem früheren Finanzminister Dominique Strauss-Kahn, die sich beide Chancen auf eine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen 2007 ausrechnen. Beide wollen die Partei politisch in der Mitte halten und ihr ein unternehmerfreundliches Programm verpassen. "Sozialliberal" heißt die neue Formel - als Abgrenzung zu "sozialdemokratisch", das bisher schon als verdächtig deutsches Reformgetue galt.
Statt Kurs zu halten, schlagen die Sozialisten aber wild mit dem Ruder, unsicher geworden, was die großen Entscheidungen ihrer Regierungszeit - die 35-Stunden-Woche und die Beschäftigungsinitiative für Jugendliche - heute noch wert sind. Auch das eine Folge des Wahltraumas von 2002. Bei allen großen sozialen Konflikten in diesem Jahr lagen sie neben ihrer Wählerschaft und gaben konfuse Signale: Mit dem Streik der Lehrer wie später der Theaterleute wussten sie nicht umzugehen; bei der Rentenreform und der Verlängerung der Beitragszahlungen der Beamten schwieg die Parteiführung zunächst, wurde dann von Solodarstellern wie Ex-Premier Michel Rocard und Ex-Gesundheitsminister Bernard Kouchner bloßgestellt, die zum Plazet für die Regierungsvorlage riefen, bis schließlich François Hollande wegen der Rentenreform ein Misstrauensvotum gegen die Regierung Raffarin anstrengte - ein taktischer Missgriff, denn die Drei-Fünftel-Mehrheit der Bürgerlichen in der Nationalversammlung stimmte den Antrag elegant nieder.
Politisch überleben die Sozialisten nur noch in den Städten, die sie mit unterschiedlichem Erfolg regieren - Bernard Delanoe hat sich mit seiner rot-grünen Mehrheit in Paris durchgesetzt und landesweit Statur gewonnen, Martine Aubry, die frühere Arbeitsministerin, macht dagegen außerhalb von Lille nicht mehr von sich reden, Christophe Collomb in Lyon gilt als schwach.
Eine "große Partei der Streikenden"
Wo die Regierungsmehrheit herkommen soll, mit der Fabius oder Strauss-Kahn einmal siegen und arbeiten wollen, ist deshalb völlig unklar. Die stark geschrumpften Kommunisten werden sich für ein Bündnis mit den "Sozialliberalen" wohl nicht hergeben, auch innerhalb des PS ist der Widerstand groß. Zwei neue Gruppierungen sind nach Jospins Wahldebakel entstanden, der - in aller Bescheidenheit - "Neue Sozialistische Partei" getaufte Reformzirkel von Arnaud Montebourg und dem früheren Parteisprecher Vincent Peillon sowie ein linksorientiertes Bündnis zwischen Henri Emmanuelli und Jean-Luc Mélenchon. Beide Verbindungen beteiligen sich aktiv am großen Zirkelziehen im linken Lager Frankreichs und messen aus, wo eine neue große Linkspartei beginnen könnte und wo sie enden müsste: Die große Option reicht von den Trotzkisten der Revolutionären Kommunistischen Liga (LCR) Alain Krivines, die weniger verbohrt sind als Arlette Laguiller und ihr Lutte Ouvrière, über die Kommunisten, Attac und José Bové´s Bauernstürmer von der Confédération Paysanne, bis zu einem Teil der Grünen und den Sozialisten; die müssten sich dann wohl spalten oder Fabius und Strauss-Kahn knebeln. Die kleine Variante erstreckt sich auf LCR, Grüne und die Kommunisten ohne ihre "Orthodoxen".
Anders als André Gerin wirbt Patrick Braouezec, kommunistischer Bürgermeister und Abgeordneter in Saint-Denis vor den Toren von Paris, seit langem für eine "alternative Kraft neben der Sozialdemokratie". Frankreich brauche eine "große Partei der Streikenden", meinte der frühere Präsidentschaftskandidat der LCR, der junge Postbeamte Olivier Besancenot in der Hochzeit der Proteste gegen die Rentenreform.
Die Linksunion wird designed wie ein Möbelstück, und ihr Zweck ist zunächst einmal nur, die verheerende Zerfaserung der Stimmen vom Frühjahr 2002 zu vermeiden. In einem Hinterzimmer des Au Ramulaud, einem Restaurant im 12. Pariser Arrondissement, ist auf diese Weise ein erster großer Appell von Wortführern der linken Parteien und der Anti-Globalisierungs-Bewegungen für eine Union niedergeschrieben worden. Spätestens im Frühjahr 2004 muss sich die große vereinigte Linke allerdings auch etwas zu ihrem Inhalt einfallen lassen. Dann werden nämlich wieder Stimmen gezählt - zunächst im März bei den Regional-, später bei den Europawahlen.
Ergebnis der Präsidentschaftswahl vom 21. April 2002 (Erster Wahlgang)
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