Schrille Töne aus Ankara

Türkei Die türkische Regierung benutzt ihre Abrechnung mit Israel wie ein Schwungrad, um sich auf der arabischen Straße in Szene zu setzen

Er hat sich in die arabische Welt gedrängt. Ewig beleidigt über den Westen, anklagend, immer eine Hand auf der Brust, wo das Herz eines rechten Muslims schlägt – Tayyip Erdogan will Respekt und bringt Gerechtigkeit von Istanbul bis Tunis als der neue Gamal Abdel Nasser, nur eben in zeitgemäßer Form: post-9/11, kapitalistisch und fromm. Er ist der Mann, der den Revolutionären des Arabischen Frühlings bisher fehlte. Glaubt er.

Wie ein Schwungrad nutzt die türkische Regierung ihre Abrechnung mit Israel, um sich auf der arabischen Straße in Szene zu setzen. Sie hat verhängnisvolle Kräfte in Bewegung gebracht wie den Mob in Kairo, der israelische Diplomaten aus dem Land trieb, sie stützt die Revolutionsgewinnler in Ägypten und Tunesien, die Muslim-Bruderschaft und Rachid al-Ghannouchis Partei Ennahda. Dass es die möglichen Wahlsieger in Kairo und Tunis nach neo-osmanischer Führung gelüstet, ist zweifelhaft. Doch der Einsatz für die Palästinenser, vor dem sich die alte Arabische Liga der Autokraten, die Europäer und erst recht die USA immer scheuten, zahlt sich aus. „Es ist uns egal, ob es 15 Millionen oder 150 Millionen Dollar kostet“, schreibt Erdogan flink den möglichen materiellen Schaden durch gekappte Waffengeschäfte mit Israel ab. „Wir erlauben niemandem, auf unserer Ehre herumzutrampeln.“ Eigentlich ging es bisher auch um Geld, etwa um die Entschädigung für die Familien der acht türkischen Aktivisten von der Mavi Marmara und des neunten Toten, des 19-jährigen Furkan Dogan mit dem US-Pass, für den sich Barack Obama nicht interessiert.

Dogan war mit fünf Schüssen aus kurzer Distanz auf dem Oberdeck der Mavi Marmara von israelischen Soldaten getötet worden. Kurz zuvor hatte er noch seinen Traum vom Märtyrertod ins Tagebuch gekritzelt. Erdogan und sein ihm nachsprechender Chor aus Ministern wie Beratern klagen den „Piratenakt“ an und verschweigen das andere: „Unverhältnismäßig und unvernünftig“ nannte der UN-Report den Einsatz der israelischen Armee in internationalen Gewässern und urteilte zugleich: Die Hilfsflotte zu stoppen, war legitim.

Eine harte Landung

Weil der UN-Untersuchungsbericht nicht ausfiel, wie er ausfallen sollte, und Israels Rechtsregierung stur blieb, läuft die türkische Diplomatie nun Sturm. Die Mavi-Marmara-Affäre ist zum Vehikel für Ankaras Vormachtpolitik geworden. So kommt zum Verlangen nach offizieller Entschuldigung eine weitere – wenig realistische – Bedingung für normalisierte Beziehungen mit Israel hinzu: die Aufhebung der Gaza-Seeblockade, verbunden mit dem Auftrag an die türkische Marine, die freie Schifffahrt auf dem Mittelmeer zu sichern. Mit jedem Tag, der seit der Vorlage des UN-Berichts vergeht, schlägt Erdogan wegen der Mavi Marmara schrillere Töne gegen Israel, den „verzogenen Jungen“, an. „Eigentlich war es ein Kriegsgrund, aber wir haben uns in Geduld geübt“, sagt der Premier, bevor er ins Flugzeug steigt und seine Arab-Spring-Tour in dieser Woche beginnt.

„Erdogans Wut kommt aus Kasimpaşa“, sagte Sibel Eraslan, eine langjährige politische Wegbegleiterin, und meinte damit den Hang des Premiers zum jähzornigen Reden. Der Underdog aus dem Istanbuler Immigrantenviertel Kasimpaşa zeigt allen, wo es langgeht. Im Schnellverfahren hat sich die Türkei zum Champion der arabischen Revolutionen erklärt und die Erinnerung an die Kumpanei mit Autokraten verdrängt. Von Libyens gestürztem Machthaber hat Erdogan noch im November 2010 den Gaddafi-Menschenrechtspreis entgegengenommen. Jetzt jedoch zerstreuen seine Muskelspiele die Aufmerksamkeit der Türken. Die Sorge vor einer einbrechenden Wirtschaft geht um, ausgelöst durch die EU-Finanzkrise und den durch Kredite finanzierten privaten Konsum. Auf eine harte Landung nach Jahren des Wachstums sind weder Gesellschaft noch Regierung vorbereitet.

Nicht wenige Türken wollen nun auch die Kurdenfrage in einem größeren Zusammenhang mit dem Kampf gegen die PKK im Nordirak, dem NATO-Raketenschild gegen Iran im Südosten der Türkei, dem Bruch mit Syrien und Israel sehen. Alles in Bewegung, alles möglich, auch ein Sieg über die PKK und eine politische Lösung für die Kurden, heißt es. Aus Ankaras Politik der „Null Probleme mit den Nachbarn“ ist eine Suche nach neuer Macht und neuen Freunden geworden.

Markus Bernath ist Türkei-Korrespondent

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