Unter der Zirkuskuppel

FRANKREICHS AGGRESSIVE PHASE DER COHABITATION Chirac und Jospin haben den Kampf um die Präsidentschaft aufgenommen

Manchmal wünscht man sich, sie könnten ein einziges Mal von selbst genug haben. Einmal nur wissen, wann es Zeit ist zu gehen. Vom Tisch aufstehen, etwas von "patriotischer Pflicht" reden, damit auch leitartikelnde Historiker auf ihre Kosten kommen, und aus der Tür treten. Lionel Jospin wird das nicht tun. Frankreichs erfolgreichster Premier des vergangenen Jahrzehnts will 2002 noch Präsident werden. Sieben Jahre Elysée-Palast müssen auf die Biografie gepackt werden, auf die Jahre als Chef der Sozialisten, als Mitterrands kritischer Erziehungsminister, als geschlagener Präsidentschaftskandidat von 1995, als siegreicher Wahlkämpfer von 1997. - Jospin ist heute 62 Jahre alt, und wenn das, was er derzeit an öffentlichem Lob von der Financial Times bis zu den Pariser Schickeria-Intellektuellen einfährt, nicht schon der Zenit eines Politikerlebens ist, was muss dann noch kommen - 95 Prozent Zustimmung und die Vergöttlichung?

Die rivalisierenden Staatslenker Jospin und Chirac haben Frankreich im faden, wahlkampflosen Jahr 2000 auf Wahlkampf gepolt. Alles wird Choreografie, jeder Auftritt auf seinen Effekt hin ausgereizt, jede Pressekonferenz sorgsam geplant. Das könnte bis zum Juni 2002 so bleiben, bis die Stimmzettel des zweiten Wahlgangs beim Präsidentenvotum in den Urnen liegen. Von Chirac durfte man nichts anderes erwarten. Er sinnt zurückgezogen im Elysée auf Revanche für die 1997 verlorene Mehrheit und sein nutzlos gewordenes Mandat. Aber weshalb muss Jospin ein

überraschend großes Talent für surreale Inszenierungen beweisen? Sein verpatzter Auftritt in Israel Ende Februar, die Steinwürfe palästinensischer Studenten in Bir Zeit haben erahnen lassen, wohin sich Frankreichs Innenpolitik allmählich verschiebt: unter die Zirkuskuppel. Tagelang hat die Nation über die libanesische Hisbollah diskutiert, ob man ihre militärischen Aktionen "terroristisch" nennen darf, wie es Jospin unüberlegt tat, oder nicht. Die "aggressive Ära der Cohabitation" zwischen dem konservativen Präsidenten und dem sozialistischen Premier schien eingeläutet. Aber noch wird Frankreichs Zukunft nicht in der Bekaa-Ebene entschieden. Noch immer geht es um elf Prozent Arbeitslose, um rassistische Gewalt in der Banlieue, eine tapsige Umweltpolitik, ein politisches System mit dem autoritären Muff der Fünfziger. Jospin jedoch ist schon im "Make-up"-Raum verschwunden. Nicht als französischer Regierungschef fuhr er nach Palästina, sondern als designierter Präsidentschaftskandidat, der zeigen wollte, gegebenenfalls eherne Bastionen wie de Gaulles pro-arabische Nahost-Politik schleifen zu können. Nicht Frankreichs Einfluss in der Region interessierte, sondern allein der Punktgewinn gegen den gaullistischen Rivalen. Eine Doppelzüngigkeit, die den Bürger für gerade so intelligent hält, um zu begreifen, dass hinter derartigen Staatsaktionen in Wirklichkeit der Wahlkampf steht. Und für so dumm, dass er nicht merkt, wie inhaltsleer dadurch politische Entscheidungen werden.

Man hat vergessen, wofür Chirac steht. Man wird vergessen, wofür Jospin stand. Er ist auf dem besten Wege, ebenfalls an Kontur zu verlieren. Einst trat er mit dem Slogan an: "Tun, was man sagt - sagen, was man tut". Den deutschen Finanzminister noch übertreffend, ließ er Steuersenkungen von umgerechnet 40 Milliarden Mark bis 2003 ankündigen. Eine Rückkehr zu den Reagonomics der Achtziger? Jener neoliberalen Politik, die Staatsverschuldung vernachlässigte, aber die Inflationsgefahr durch hohe Zinssätze gering hielt? Ohne massive Steuersenkungen kein Wahlsieg, flüstern Jospins Propheten und raten ihm, zwischen populär und populistisch auf Kurs zu bleiben. So beliebig wird die Linksregierung mit einem Mal, dass selbst die guignols - Frankreichs Instanz gewordene Politclowns während der Primetime - in eine Identitätskrise geschlittert sind. Man findet sie nicht mehr komisch, und sie selbst finden nichts Komisches mehr in der französischen Tagespolitik. Mit ganzseitigen Werbeanzeigen rennen sie gegen ihre Abschaffung an, während Lionel Jospin, der viel bewunderte équilibriste - der Seiltänzer - sich selbst entzaubert. Seine arrogante, unbeherrschte Seite kommt dann zum Vorschein, wie zuletzt in Bir Zeit, wenn er nicht zugeben will, einen Fehler begangen zu haben. Jospins Ambitionen auf das Präsidentenamt verlangen einen anderen Politiker. Den unbestechlichen Protestanten, der ausschließlich in eigener Sache auf die Kanzel steigt.

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