Im Dreischritt torkelt Frankreich durch diesen Spätherbst. Streiks, Banlieue-Unruhen, Sozialdemontage - und dann wieder von vorn. Mit Putinscher Rhetorik kündigte der Staatschef an, er werde die Schützen von Villiers-le-Bel finden, "einen nach dem anderen". Nicht "auf dem Klo", wie das Wladimir Putin einst tschetschenischen Attentätern androhte, dazu ist Nicolas Sarkozy dann doch zu elegant. Aber die Schüsse auf Polizisten in der Pariser Vorstadt waren doch eine Gelegenheit für den Präsidenten, wieder den wahlkämpfenden Säuberer herauszukehren.
Villiers-le-Bel, wo zwei maghrebinische Jugendliche bei einem Zusammenstoß mit einem Polizeiwagen starben und Gangs dann zum Shoot-out mit der Staatsgewalt ausrückten, ist zweifellos ein Wendepunkt in der gewalttätigen Geschichte der V. Republik mit ihren Vorstädten. Dass Polizisten gezielt ins Visier genommen werden - das gab es bisher noch nicht. Ein willkommener Anlass für Klartexter wie Nicolas Sarkozy, gut von böse zu trennen - die "soziale Krise" von der "Herrschaft der Halunken". Ein alter Kniff. Der Stammtisch darf dann festlegen, wo die Grenzen verlaufen, was noch hinnehmbar ist bei den Immigranten an der Peripherie oder auch, ob ein Streik im Land in Ordnung geht oder nicht.
Ein Erfolg des Elysée
Ein Chemiker würde wohl von der Entropie sprechen, von einer wohlig wärmenden Energie, die frei wird, wenn sich ein komplexes Molekülgebilde zersetzt und auf ein niedrigeres Niveau rutscht. Der Haken daran ist jedenfalls, dass sich der alte Zustand in der Regel nicht mehr erreichen lässt, allenfalls mit Gewalt und sehr viel neuer Energie. So viel weiß auch Nicolas Sarkozy aus dem Handbuch des Sozialabbaus und verkleistert alles mit der dicken Bürste der Kommunikation. "Keiner hat gewonnen, keiner verloren" nach neun Tagen Streik in Frankreich, alles im Grunde wahnsinnig vernünftig, sagte der Präsident seinen Landsleuten. Und Weihnachten ist auch bald.
Bernard Thibault, der Chef der größten Gewerkschaft CGT, die einst kommunistisch war, als die Kommunisten noch über 20 Prozent der Stimmen bei Wahlen bekamen und nicht die zwei bis fünf Prozent wie heute, dieser Mann mit dem Anti-Establishment-Topfschnitt redet sich und seinem Anhang zu, dass alles noch drin und der Streik ja nicht vorbei ist. "Ausgesetzt" sei er, beteuert Thibault, für die Dauer der Verhandlungen mit der Regierung und dem Management der Staatsbahn SNCF. Alles könne wieder starten, wenn es in den Gesprächen nicht spürbar vorwärts gehe. Aber so viel weiß auch Bernard Thibault, der seit zehn Jahren die CGT durch das Sperrfeuer der Rechten leitet: Den Streik kann man so leicht nicht mehr ankurbeln, und die legendären Sonderregelungen bei den Pensionen der Staatsbediensteten sind im Grunde gefallen.
Seit dem Sieg der Bürgerlich-Konservativen in Frankreich 1995 waren die "Privilegien" der Mitarbeiter bei der SNCF, der Strom- und Gasgesellschaft, der Handelsmarine, der Pariser Oper oder im Bergbau das Reiztuch aller neoliberalen Staats-Entregler. Alain Juppé, der erste Premierminister des damals gerade ins Amt gekommenen Präsidenten Chirac, ging im Winter 1995 in die Knie nach 17 Tagen Streik bei Bahn, Post, Strom, an Schulen und Universitäten. Juppé, der aufrecht in seinen Stiefeln stand, wie er selbstsicher einer zweifelnden Öffentlichkeit verkündete, hatte eigentlich die defizitären Krankenversicherungen radikal sanieren wollen. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen und Juppé zu Fall brachte, war sein eher beiläufiger Satz, man werde eines Tages auch einmal an eine Reform der Sonderregelungen - der "régimes spéciaux" - für Staatsbedienstete denken müssen.
Jean-Pierre Raffarin, der nächste Rechtspremier, war so besorgt, ihn könne das gleiche Schicksal ereilen, dass er bei seiner Rentenreform im Jahr 2003 beständig erklärte, man werde sich keinesfalls und garantiert nicht jetzt an den "régimes spéciaux" vergreifen. Raffarin kam mit zwölf Tagen Streik davon - die Sonderregelungen blieben unangetastet. Unter Nicolas Sarkozy und seinem Regierungschef François Fillon wurden es neun Streiktage bei Bahn und Métro für den ersten Frontalangriff auf die angebliche Besserstellung in den Staatsbetrieben. Das wird man einen Erfolg des Elysée nennen müssen.
Die Konzessionen der Regierung, die im September die Pensionskürzungen noch einfach per Dekret anordnen wollte, haben die Gewerkschaftsführer an den Verhandlungstisch gebracht. Ganz ähnlich wie 1995, als sie von der Streikbewegung an der Basis überrollt worden waren, geben die Bosse von CGT, Force Ouvrière (FO) und der immer schon sozialdemokratisch kompromissoffenen CFDT freilich ein uneinheitliches Bild ab. Man streitet untereinander, doch keiner wird das Gefühl los - eine Seite in der französischen Sozialgeschichte wurde für immer umgeschlagen.
40 Jahre Ballett
Denn Nicolas Sarkozy ist mit seiner "Keiner hat gewonnen, keiner hat verloren"-Formel ein infames Stück gelungen: Um die Gleichberechtigung der Franzosen gehe es ihm, so behauptet der Staatschef und suggeriert, jede Arbeit sei gleich und deshalb müsse jeder auch gleich lange 40 Jahre in die Rentenkassen einzahlen - nicht nur 37,5 wie bei der Bahn. Um eine gerechte Aufteilung der Lasten sorge er sich, raunt der Präsident und reißt sich auch noch das Monopol der Solidarität unter den Nagel. Es seien immerhin die Steuerzahler, die bisher jene Privilegien der Staatsbediensteten finanzierten, merken Sarkozys Berater geflissentlich in Radio und Fernsehen an - drei Milliarden Euro Defizit jedes Jahr allein im Pensionssystem der staatlichen Eisenbahn.
Soll man also auch noch mit 65 Hochgeschwindigkeitszüge durch Frankreich steuern und 40 Pensionskassenjahre Ballett tanzen? Unrealistische Ideen erledigt der Markt von selbst. Die von der Regierung gewünschte Entsolidarisierung in der Sozialpolitik hat allerdings dieses Mal funktioniert. Eine Mehrheit der Franzosen hat den Gewerkschaften nicht mehr die These vom Streik gegen die Deregulierer und die Behauptung abgekauft: Im öffentlichen Dienst werde der Arbeitskampf auch stellvertretend für die Privatwirtschaft geführt. Da kommen die Eruptionen in der Banlieue gerade recht, um die Franzosen zu einen. Der gesellschaftliche Frontverlauf von Ordnung und Unordnung, Recht und Anarchie verläuft genau dort, will Frankreichs Regierung ihren Bürgern weismachen.
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