Wer soll die Parolen der Politiker auf den Plakaten noch ernst nehmen? Zum fünften Mal seit März 2019 sind am 1. November gut 6,5 Millionen Israelis aufgerufen, die 120 Abgeordneten der Knesset zu wählen. Das sorgt für viel Verdruss bei der Wählerschaft, die fürchtet, in ein paar Monaten erneut abstimmen zu müssen, weil keine neue Regierung zustande kam.
Das „Kabinett des Wandels“ aus acht Parteien zerbrach im Juni nach kaum einem Jahr: Zu groß waren die ideologischen Differenzen zwischen dem rechten Kurzzeitpremier Naftali Bennett, der sozialdemokratischen Meretz, der islamischen Ra’am von Mansur Abbas und den zentristischen Parteien, die im Sommer 2021 Benjamin Netanjahu nach zwölf Jahren an der Macht aus dem Amt gedrängt
rängt hatten. Bennett dürfte künftig keine Rolle mehr spielen – sein rechtes Wahlbündnis Jamina ist zerfallen; die steile Karriere seiner Verbündeten, der rassistischen Innenministerin Ajelet Shaked, ist vorerst ebenfalls gebremst.Zerfallene AllianzSo wird die Schlussphase des Wahlkampfs zu einem Duell zwischen dem amtierenden Regierungschef Jair Lapid und – Netanjahu. Der Langzeitpremier will zurück an die Regierungsspitze. Der von ihm seit 2006 geführte Likud wird letzten Umfragen zufolge die größte Fraktion in der Knesset stellen. Auf 30 Sitze kann die konservative Partei des in Korruptionsverfahren verstrickten Anführers rechnen – Lapids zentristische Jesch Atid auf 25. Gemeinsam mit den rechten Partnern aus seinen früheren Regierungen käme Netanjahu indes nicht über 60 der 120 Mandate hinaus – Lapid liegt mit seinen potenziellen Koalitionären derzeit bei 56.Damit könnten die arabischen Parteien zum Zünglein an der Waage werden, wie 2021, als der Ra’am-Vorsitzende Abbas seine Islamisten in die Regierung führte und Bennett wie Lapid die Mehrheit gegen Netanjahu verschaffte. Freilich ist die „Gemeinsame Liste“ aus vier israelisch-palästinensischen Parteien, die noch 2020 geschlossen antraten, inzwischen auf zwei geschrumpft: Abbas hatte sich schon vor der Wahl 2021 aus dem Bündnis zurückgezogen, Wochen später folgte Sami Abu Shehadehs Balad. So treten am 1. November nur die bürgerliche Ta’al von Ahmad Tibi und die kommunistische Chadasch von Ayman Odeh als „Gemeinsame Liste“ an; beiden werden mit vier Sitzen so viele Mandate prognostiziert wie Ra’am allein. Balad, das noch vor zwei Jahren zum größten parlamentarischen Erfolg der arabischen Parteienallianz beigetragen hatte, wird die 3,25-Prozent-Grenze für den Einzug in die Knesset wohl nicht überschreiten. Nicht in die Opposition zurückkehren will nach einem Jahr an der Macht die sozialdemokratische Meretz-Partei. Ihre Vorsitzende Zehava Gal-On meint: „Ich hoffe sehr, dass Meretz auch an der nächsten Regierung beteiligt ist.“ Nur so ließe sich der anhaltende Siedlungsbau in den besetzten palästinensischen Gebieten stoppen. „Schon seit langem fordern wir, illegale Siedlungsaußenposten zu evakuieren, ihren Anschluss an das Stromnetz abzulehnen und alles zu tun, um ein Ende der Besatzung zu erreichen.“ An der linken Basis sorgte die stillschweigende Zustimmung der drei scheidenden Meretz-Minister Nitzan Horowitz, Tamar Zandberg und Esawi Frej zur expansionistischen Siedlungspolitik Bennetts und Lapids für Unmut. Zumal die Siedlergewalt im Westjordanland seit Wochen eskaliert: Gut 100 Fälle jüdisch-nationalistischer Übergriffe vor allem im Norden der Westbank um Nablus gab es an zehn Tagen im Oktober.Zehava Gal-On, die erst im Sommer an die Spitze von Meretz gewählt wurde, setzt trotzdem alles daran, dass eine Regierung ohne Netanjahu möglich wird. „Alles außer Bibi“, das bleibt auch weiterhin das Credo des Anti-Netanjahu-Lagers. „In der nächsten Regierung sollten sowohl arabische als auch ultraorthodoxe Parteien vertreten sein. Obwohl in Fragen des religiösen Pluralismus eine große Kluft zwischen uns und den Ultraorthodoxen besteht, teilen wir Gemeinsamkeiten in sozialökonomischen Fragen. Deshalb sind wir bereit, mit ihnen zu kooperieren, um eine Rückkehr Netanjahus an die Macht zu stoppen.“Sollte der wieder ein Kabinett bilden, könnte dieses so illiberal sein wie keines zuvor. Mit dem Rechtsextremisten Itamar Ben Gvir von der Partei Jüdische Stimme und Bezalel Smotrich vom Religiösen Zionismus treten zwei Verbündete des Langzeitpremiers mit dem Anspruch an, Ministerämter zu bekleiden. Ben Gvir verlangte Anfang Oktober bei einer Kundgebung in Jerusalem mit gezückter Pistole von Polizisten, sie sollten auf Palästinenser schießen, die Steine werfen. Neofaschistischen Ideen zugewandt, fordert er die Zerschlagung der Autonomiebehörde von Präsident Mahmud Abbas in Ramallah und geißelt israelisch-palästinensische Politiker als „Terroristen“. Iran kaum ThemaAuch wenn Gespräche zwischen Israelis und Palästinensern nicht in Sicht sind, sprach sich Premier Lapid im September vor den Vereinten Nationen immerhin für eine Zwei-Staaten-Lösung aus und führte im Wahlkampf wiederholt die neuen regionalen Kontakte als Erfolg an. Noch als Außenminister hatte er Bahrain, die Vereinigten Arabischen Emirate und Marokko besucht, drei der vier arabischen Staaten, mit denen Israel seit 2020 diplomatische Beziehungen aufgenommen hat. Das soeben mit dem Libanon geschlossene Abkommen über den Grenzverlauf entlang der Gasfelder vor den Küsten beider Staaten nannte er „historisch“. Netanjahu dagegen verurteilte die von den USA vermittelte Einigung als Ausverkauf an die Hisbollah.Die Bedrohung durch den Iran spielt im Wahlkampf kaum eine Rolle, ebenso wenig tun das hohe Lebenshaltungskosten, die noch vor zehn Jahren zu wochenlangem Protest auf Tel Avivs Prachtstraße, dem Rothschild-Boulevard, geführt hatten. Anders als damals gehört die heute von Verkehrsministerin Merav Michaeli geführte Arbeitspartei, die 1992 mit Jitzchak Rabin an der Spitze den Likud aus der Regierung verdrängt hatte, nicht mehr zum linken Lager, sondern zum zentristischen. „Weder das Ende der Besatzung noch die volle Gleichberechtigung der palästinensischen Bürger Israels stehen bei der Arbeitspartei noch hoch im Kurs“, kritisiert Meretz-Chefin Gal-On solcherart Politikwechsel.