Benjamin Netanjahus legislativer Putsch gegen die Gewaltenteilung kommt voran

Meinung In den ersten hundert Tagen seiner Regierung will das Kabinett Netanjahus für unumkehrbare Tatsachen sorgen – beim Umgang mit dem Obersten Gericht wie der Annexion von Siedlungen
Ausgabe 08/2023
Hat gut lachen: Israels Premierminister Benjamin Netanjahu
Hat gut lachen: Israels Premierminister Benjamin Netanjahu

Foto: Ronen Zvulun/Pool/AFP via Getty Images

Nur noch zwei Lesungen in der Knesset und die von Israels rechtsnationalistischer Regierung vorangetriebene Entmachtung der Justiz ist vollbracht – trotz seit Wochen anhaltender Proteste, trotz der Forderung von Präsident Yitzhak Herzog an Premier Benjamin Netanjahu, einen Kompromiss zu suchen, trotz Warnungen sogar des US-Präsidenten. „Einen Konsens für grundlegende Veränderungen zu finden, ist wirklich wichtig, damit die Menschen sie auch annehmen und sie nachhaltig sind“, sagte Joe Biden Mitte des Monats mit Blick auf Israel.

Doch um Konsens und Kompromiss geht es Netanjahu und seinen rechtsextremen wie rechtsreligiösen Koalitionären nicht, im Gegenteil: Jede Kritik lässt sie kalt. Künftig wird die Knesset deshalb aller Voraussicht nach mit einfacher Mehrheit Entscheidungen des Obersten Gerichts widerrufen können. Mit 63 zu 47 Stimmen votierten die Abgeordneten nach langer Nachtsitzung zudem für Änderungen, die der Regierung deutlich mehr Macht als bisher im Komitee zur Auswahl von Richtern geben. „Eine große Nacht, ein großer Tag“, twitterte der wegen Korruptionsvorwürfen selbst vor Gericht stehende Netanjahu – und wies Vorwürfe zurück, die von seinem Justizminister vorangetriebene Novellierung gefährde Gewaltenteilung und Demokratie. Bis Ende März soll die sogenannte Justizreform durch sein.

Dass dem Obersten Gericht damit sogar die Möglichkeit genommen wird, Gesetze zurückzuweisen, die in Konflikt mit den zwölf verfassungsähnlichen Grundgesetzen Israels stehen, zeigt, wie weit der legislative Putsch reicht. Oppositionsführer Jair Lapid sieht das Land an den Rand eines Bürgerkriegs gebracht. „Die Geschichte wird Sie für diese Nacht verurteilen“, erwiderte er Netanjahu.

Dessen rechtsnationalistisches Kabinett jedoch setzt weiter alles daran, in den ersten hundert Regierungstagen ein Programm durchzuziehen, das nicht nur die israelische Demokratie unterminiert. Nach fünfeinhalb Jahrzehnten Besatzung Palästinas treibt es offen die Annexion jüdischer Siedlungen voran – ungeachtet der Kritik des UN-Sicherheitsrates. Auch da gilt, was Netanjahu beim Vorgehen in der Knesset gegen die Judikative antreibt: Mehrheit ist Mehrheit, Konsens und Kompromiss sind Vokabeln aus einer anderen, einer demokratischen Zeit.

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Geschrieben von

Markus Bickel

Journalist. Büroleiter Rosa-Luxemburg-Stiftung Israel (Tel Aviv). Davor Chefredakteur Amnesty Journal (Berlin), Nahostkorrespondent F.A.Z. (Kairo)

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