Israel: Was ultrarechtes Kabinett veranstaltet, grenzt an Putsch gegen Judikative

Meinung Das Oberste Gericht hat Innenminister Arie Deri wegen seiner kriminellen Vergangenheit als nicht regierungswürdig eingestuft. Den Konflikt um die Gewaltenteilung heizt das weiter an
Ausgabe 04/2023
Das Oberste Gerichts Israels hat die Ernennung von Arie Deri zum Innen- und Gesundheitsminister als „in höchstem Maße unangemessen“ bewertet
Das Oberste Gerichts Israels hat die Ernennung von Arie Deri zum Innen- und Gesundheitsminister als „in höchstem Maße unangemessen“ bewertet

Foto: Imago/Zuma Wire

Nur vier Wochen nach Amtsantritt muss Benjamin Netanjahu seinen treuesten Koalitionspartner entlassen – den ultraorthodoxen Innen- und Gesundheitsminister Arie Deri. Weil das Oberste Gericht des Landes dessen Ernennung wegen seiner kriminellen Vergangenheit als „in höchstem Maße unangemessen“ bewertet, sieht sich der Langzeitpremier zu diesem Schritt gezwungen. Die Alternative wäre eine offene Konfrontation mit Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara und mit Richtern, die unbeirrt auf Recht und Verfassung achten – inklusive der Gefahr einer institutionellen Krise.

Netanjahu fürchtet offenbar den offenen Schlagabtausch mit der Judikative gleich zu Beginn seiner Regierungszeit, während Deri von der rechtsreligiösen Shas-Partei diesen mit aller Macht sucht. Ganz bewusst heizt er den Streit mit der Justiz an: „Wenn sie die Tür vor uns zuschlagen, werden wir durchs Fenster wieder einsteigen“, kündigte er nach dem Richterspruch an. „Wenn sie das Fenster schließen, werden wir durch die Decke einbrechen, mit Gottes Hilfe.“ Das ist wahrlich unverfroren: Zwischen 2000 und 2002 saß Deri 22 Monate hinter Gittern, weil er als Innenminister Bestechungsgelder angenommen hatte. 2022 wurde er wegen Steuerhinterziehung verurteilt. Um ihm das Regieren zu ermöglichen, verabschiedete die Knesset eigens ein Gesetz, um die geltende Sperre für verurteilte Straftäter auszuhebeln.

Angesichts der Gesetzesoffensive, zu der die Rechtsaußen-Allianz seit ihrem Amtsantritt neigt, kommen von Deri keine leeren Drohungen, selbst wenn er künftig nicht mehr selbst am Kabinettstisch sitzt. Im Visier haben nicht nur die religiösen, sondern auch die rechtsextremen Regierungspolitiker eine Gewaltenteilung, die Opposition und Minderheiten noch einen letzten Schutz vor der Macht der Mehrheit garantiert. Ungarn und Polen stehen dabei Pate. Bereits in den kommenden Wochen will die Knesset-Mehrheit aus Netanjahus Likud, der Partei Religiöser Zionismus von Finanzminister Bezalel Smotrich und der Partei Jüdische Stärke von Itamar Ben-Gvir, Minister für Nationale Sicherheit, daher die sogenannte Überstimmungsklausel verabschieden. Diese würde es dem Parlament erlauben, das Oberste Gericht einfach zu überstimmen, wenn dieses ein Gesetz als verfassungswidrig zurückweist. Demnächst könnte dann eine Mehrheit von 61 der 120 Abgeordneten richterliche Entscheidungen aushebeln, darunter die zwölf Grundrechte, in denen allgemeine Menschenrechte verankert sind.

Bilanz an Pessach im April

Gegen diese Pläne läuft Israels bürgerliche Mitte Sturm – zumindest in der kosmopolitischen Hafenstadt Tel Aviv. Im Großraum rund um das Hightech-Zentrum des Landes wird das Gros jener Steuern erwirtschaftet, von denen die jetzige Regierung möglichst viel ins ultrareligiöse Milieu, aber auch in eine expandierende Siedlerinfrastruktur in den besetzten Gebieten der Westbank stecken will. 130.000 Menschen waren dagegen am Wochenende auf der Straße. Ab jetzt wird sich zeigen, ob eine allenfalls zaghaft im Entstehen begriffene Demokratiebewegung Netanjahu, Deri, Smotrich und Ben-Gvir wirklich die Stirn bieten kann.

Die stärkste Waffe der bürgerlich-zentristischen Opposition bleibt bis auf Weiteres die Judikative. Massen auf den Straßen allein werden den legislativen Umbruch, den die Rechtsregierung durchziehen will, nicht stoppen. Und der parlamentarischen Opposition sind angesichts der relativ stabilen Mehrheit von 64 Regierungsabgeordneten die Hände gebunden. Auf lange Sicht vielleicht wichtiger noch: Allein die neun israelisch-palästinensischen und ein kommunistischer Abgeordneter stellen den zionistisch-nationalistischen Konsens der 110 anderen Knesset-Mitglieder infrage.

Morgenluft wittert die bürgerliche Opposition nach dem Marsch der mehr als 100.000 vor Tagen dennoch. Möglicherweise könnte das Oberste Gericht nach Deri auch Netanjahu die Regierungseignung absprechen. Begründung: rechtliche Interessenkonflikte. Die könnte man angesichts der gegen ihn laufenden Verfahren wegen Untreue, Bestechlichkeit und Betrugs geltend machen. Den Machtkampf zwischen Justiz und Exekutive um die Verfassung des politischen Systems wird das weiter befeuern. An Pessach im April wird man eine erste Bilanz ziehen und wissen, wie viele der 100-Tage-Pläne des Kabinetts Netanjahu zur Entmachtung der Justiz in der Praxis wirklich gegriffen haben.

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Geschrieben von

Markus Bickel

Journalist. Büroleiter Rosa-Luxemburg-Stiftung Israel (Tel Aviv). Davor Chefredakteur Amnesty Journal (Berlin), Nahostkorrespondent F.A.Z. (Kairo)

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