Und dafür 70 Euro? Für ein Nachschlagewerk über den Dichterkönig der Mottenkugelära? Den hermetisch schreibenden und zeitweilig in den Nationalsozialismus verstrickten? Doch, die Investition lohnt. Gottfried Benns Imageprobleme seit den 1950er Jahren verdecken seine Frühphase, einen expressionistischen Neuerer, den genauso wichtig zu nehmen der erste Vorzug dieses 450-Seiten-Ziegels ist. Die Schockwirkung der Debütgedichte aus der Pathologie (1912), die bis zur Fantasie vom Professorenmord getriebene Wissenschaftskritik, die Ich-Entgrenzungen der Rönne-Novellen, denen die Raspe-Figur des jungen Rainald Goetz viel verdankt; nachvollziehbar wird, wie hip der Berliner Dichterarzt einmal war und warum er es für manche blieb.
Nicht allein das ganze Lyrik- und Prosawerk plus die medizinischen Schriften des Doktors findet man anlässlich des 60. Todestags verhandelt, in MRT-hafter Tiefenschärfe. Auch seinen gesamten Lektürehorizont haben die Beitragenden rekonstruiert, Denkfiguren und Motive aufgeschlüsselt. Was war noch mal ein „Wallungswert“? Überdies die Nachwirkungen eines writer’s writer vermessen, an dem sich von Enzensberger bis Gernhardt die halbe deutsche Nachkriegsliteratur abarbeitete. Gelungen ist dem Projekt die Herkulesleistung, weil es sich zur Asozialität, Benns Produktionsprinzip, gegenteilig verhält. Ein Team von 42 Experten dirigiert und zu informativsten Artikeln angehalten zu haben, ist den Herausgebern hoch anzurechnen.
Mitverantwortlich zeichnen Christian M. Hanna und Friederike Reents aber auch für Diskretionswissenschaft, die einem das Vergnügen manchmal vergällt. Von Benns Temporärfaschismus 1933/34 spricht weder das Vorwort klar, es murmelt von einem „ideologisch nicht unumstrittenen“ Autor, noch der Klappentext, der „zeitgeschichtliche Brisanz“ nur den Briefwechseln bescheinigt. Weiter geht das Diplomatisieren auf Seite 261: „Von allergrößter Brisanz ist der Brief vom 23.9.1933“ nach San Francisco. „Kaum ein zweites Schreiben ist bekannt, in dem Benn seine anfängliche Überzeugung, an einem historischen Wendepunkt zu stehen, so klar zum Ausdruck bringt wie hier.“ Punkt. Das war’s. Zitieren mag Holger Hof die Post an Gertrud Zenzes partout nicht, dort steht ja Unschönes: „Was nun aber das Judenproblem angeht, (…) so sehen Sie das sicher auch ganz falsch. Denken Sie einmal, unter den Berliner Ärzten waren 85 % Juden, den Rechtsanwälten 75 %. (…) Es ist doch vollkommen selbstverständlich, dass dieser Zustand eines Tages als unmöglich angesehen wurde.“ Stattdessen erfahren wir, dass Benn nach dem Krieg in Zenzes’ Carepaketen nicht nur Suppen und Tee fand, sondern auch Kaffee und Socken. Brisant, brisant.
Warum verschwindet die Rede vom „Judenproblem“ im Umschreibungsnebel? Weil sonst das Mantra, Benn sei bei allen pronazistischen Tönen nach der Machtübernahme der NSDAP nie Antisemit gewesen, sich als halbwahr entpuppte. Es stimmt, der Respekt des Künstlers vor jüdischen Kollegen wie Carl Einstein war völlig naziuntypisch. Nur gab es auch das Ressentiment eines unzufriedenen Freiberuflers.
Bagatellisierende Phrasen
Und: Kaum hat Herbert Uerlings geklärt, dass Benn im Frühjahr 1933 wusste, welche Art „neuen Staat“ er feierte, ihm die Terrorisierung des öffentlichen Lebens nicht entgehen konnte, kommt Michael Ansel mit Tröstlichem. Im November schon habe der Meister zur „unmissverständlichen Verteidigung der Kunstautonomie“ zurückgefunden. Tatsächlich schmeichelte der Benn dieser Phase den Nazis („artistisch produktive Typen“) und versuchte ihnen den Expressionismus als rein „arische“ Bewegung anzudienen; die jüdischen Beteiligten, darunter einige seiner Freunde, totschweigend. Eine unorthodoxe Verteidigung der Kunstautonomie.
Besonders eifrig zeigt sich eine Nachwuchskraft der Benn-Gesellschaft e. V., die das leidige Politthema für erledigt erklärt. Begründung: Dass der Dichter 1933 einfach irrte, habe doch auch Klaus Theweleit erkannt! Nee, der Befund des Vereinnahmten war spitzer: Benn wollte den Nazi- mit dem ersehnten Kunststaat verwechseln. Nur als Hitlers Propagandist konnte er die in der Weimarer Republik spät erklommenen Stellungen halten, das heißt Akademiemitglied bleiben und im Radio weiter Reden gegen die ihm verhassten Linksliteraten schwingen. Im „Irrtum“ steckte Eigeninteresse, man denke. Wofür übrigens auch die spannendsten Handbuchartikel sprechen. Sie zeigen, wie sich 1928/29 die Fehde zwischen dem kühl-elitär auftretenden Benn und den Journalistensozialisten um Kisch hochschaukelte, Graf Gottfried nach rechts treibend, seinem apolitischen Selbstbild zum Trotz. Wer heute noch die Irrtumsvokabel bemüht, um Machtkämpfe auszublenden, macht aus ihr die bagatellisierende Phrase, die sie schon in den 50ern war. Die Unaufhörliche.
Überflüssig ist nicht das Interesse an der Problemzone 1933, sondern ihr kosmetisches Bearbeiten. Benns Selbst-Entnazifizierung seit Sommer 1934 ist bekannt, und seine Interessenten sind erwachsen. Sie wissen es schon, eine Synekdochen-Orgie wie Nachtcafé wird durch die Nazi-Schwärmereien nicht entwertet, von Einsamer nie zu schweigen. Das ist ja der Clou: Reaktionäres Gefasel und unsterbliche Verse können ein Werk sein.
Info
Benn-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung Christian M. Hanna, Friederike Reents (Hg.) J. B. Metzler 2016, 458 S., 69,95 €
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