Otto Schily (re.) mit Hans-Christian Ströbele (li.) und Horst Mahler, 1972
Foto: Chris Hoffmann/dpa
Am 15. Juni 1972 wird die als RAF-Aktivistin seit Mai 1970 zur Fahndung ausgeschriebene Ulrike Meinhof zusammen mit ihrem Begleiter Gerhard Müller festgenommen. Als die Verhafteten durchsucht werden, taucht ein Kassiber auf, der mutmaßlich von dem RAF-Mitglied Gudrun Ensslin stammt. Eine Woche zuvor in Hamburg festgenommen, sitzt sie seitdem in der JVA Essen ein. Der von einer, so die Ermittlungen, „unbekannten elektrischen IBM-Schreibmaschine mit Kugelkopf und der Schriftart ‚dual gotic‘ “ abgeschriebene Kassiber enthält eine Reihe von Anweisungen und Tipps zum weiteren Vorgehen der RAF. Außerdem schildert Ensslin, wie sie ihre Verhaftung in Hamburg empfunden hat.
Für die Sicherheitsbehörden stellt sich sofort die Frage, wie dieses Papi
ieses Papier aus der Vollzugsanstalt Essen in die Hände von Meinhof gelangen konnte. Die Antwort folgt umgehend: Otto Schily, der Verteidiger von Ensslin, muss der Überbringer gewesen sein. Georg Knoblich, Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof, erlässt noch am 17. Juni 1972 auf Antrag des Generalbundesanwaltes – ohne Schily angehört zu haben – den Beschluss, den Anwalt unter dem „dringenden Verdacht (…), sich an einer kriminellen Vereinigung als Mitglied beteiligt oder sie zumindest unterstützt“ zu haben, aus seinem Mandatsverhältnis auszuschließen. Die Botschaft Ensslins „mit Anweisungen für die weitere verbrecherische Tätigkeit der kriminellen Vereinigung“ könne, so Knoblich, „nur durch Rechtsanwalt Schily aus der Haftanstalt herausgeschmuggelt und der Beschuldigten Meinhof übermittelt worden sein“. Was ist passiert? Generalbundesanwalt Ludwig Martin hat Tage zuvor – synchron mit diesbezüglichen Veröffentlichungen der Springer-Presse über mutmaßlich kriminelle Aktivitäten von „45 namentlich bekannten linksradikalen Rechtsanwälten“ – bei einer Pressekonferenz behauptet, dass verschiedene Anwaltskollektive über die „anwaltschaftlichen Berufspflichten hinausgehende Verbindungen zur Baader-Meinhof-Gruppe“ unterhielten. Das löst unter den so markierten Juristen, darunter Schily, energischen Protest aus. Die Rechtsanwälte Kurt Groenewold, Dieter Reinhard und Franz Josef Degenhardt stellen gegen Ludwig Strafanzeige wegen Verleumdung. Rechtsanwalt Heinrich Hannover erhebt gegen den Generalbundesanwalt eine Dienstaufsichtsbeschwerde, in der er einen schweren Verstoß gegen Amtspflichten rügt und die sofortige Dispensierung verlangt. Dennoch gelingt es der Bundesanwaltschaft zunächst, Schily als Anwalt von Gudrun Ensslin auszuschalten. Kurz darauf wird er auch aus seinem Mandat für Katharina Hammerschmidt entfernt, die sich auf sein Zuraten hin den Sicherheitsbehörden gestellt hat. Kassiber-Schmuggel durch RAF-GefangeneSchily erfährt von dem gegen ihn eingeleiteten Ermittlungsverfahren aus der Presse und beauftragt den Rechtsprofessor Uwe Wesel, Vizepräsident an der FU in Westberlin, seine Interessen wahrzunehmen. Wesel beginnt zu recherchieren und verfasst für den in Bedrängnis geratenen Freund aus Studienzeiten mehrere Schriftsätze zu dessen Verteidigung. Darin widerlegt Wesel eine Reihe von Behauptungen der Sicherheitsbehörden. Er argumentiert: In der Tat konnte Schily am 12. Juni in der JVA Essen in der Zeit zwischen 9.15 und 11.45 Uhr mit seiner Mandantin unbeaufsichtigt in einem Besuchsraum sprechen, wie es gesetzlich zulässig ist. Dabei wurde das Gespräch anfangs durch zwei Kriminalbeamte von einem Nebenraum aus überwacht – eine illegale Maßnahme, die von Schily, als er sie entdeckt, umgehend beendet wird. Wesel zerpflückt in seiner Analyse die vom NRW-Justizministerium lancierte Theorie, die gegen Gudrun Ensslin mit dem Ziel totaler Abschirmung ergriffenen Sicherheitsmaßnahmen in der JVA seien perfekt. So hat der Leiter der JVA gegenüber dem Bundeskriminalamt erklärt, es sei auszuschließen, „dass eine Bedienstete der Frauenabteilung allein unter vier Augen mit ihr (Ensslin) Kontakt hatte. Tagsüber dürfen nur zwei, nachts sogar nur drei Bedienstete ihre Zelle betreten“. Wesel führt in seinen Schriftsätzen eine Vielzahl von Beispielen dafür an, dass dies eben nicht zutraf. Ensslin habe beispielsweise Streichhölzer und Shampoo ganz ohne umständliche Genehmigungsformalitäten für ihre Zelle organisieren können.Was das Herausbringen von Nachrichten aus der Strafanstalt angeht, erinnert Wesel an eine alte Einsicht: „Die Strafgefangenen entwickeln einen bemerkenswerten Einfallsreichtum auf diesem Gebiet; oft kommt ihnen auch der Zufall zu Hilfe. Außerdem bildet sich im Bereich der Strafanstalt eine Art von Subkultur, in der Verfehlungen von Justizvollzugsbeamten nicht auszuschließen sind.“ Er sieht es als „symptomatisch“ für die JVA Essen, dass die Strafgefangenen durch das Abhören von Polizeifunk noch vor der Anstaltsleitung über das Eintreffen von Gudrun Ensslin informiert gewesen seien. Wesel macht weiter geltend: Der Tatverdacht gegen Schily werde allein damit begründet, dass angeblich niemand außer ihm den fraglichen Kassiber aus der JVA herausgebracht haben könne. „Positive Beweise gibt es nicht.“ Es werde nur „ex-negativo“ geschlussfolgert, Rechtsanwalt Schily müsse es gewesen sein, weil es angeblich jemand anders nicht getan hat. Wesel verweist auf reichhaltige Erfahrungen im Kassiber-Schmuggel durch andere RAF-Gefangene wie Astrid Proll oder Marianne Herzog, die das ohne Hilfestellung von Anwälten bewerkstelligt hatten. Otto Schily übersteht Kassiber-AffäreDass Otto Schily von der Ensslin-Verteidigung suspendiert wird, sorgt für breiten Protest und den ersten Hungerstreik in der damals noch frühen RAF-Geschichte, dem sich gut 30 Gefangene anschließen. Rechtsanwalt Heinrich Hannover äußert Mitte Juli 1972 auf einer Tagung linker Juristen in Frankfurt/M. die Befürchtung, „dass wir eines Tages alle hochgehen, spätestens wenn irgendwo wieder ein Kassiber aus RAF-Hand auftaucht“. Ende August verwirft der Dritte Strafsenat am Bundesgerichtshof die Beschwerde Schilys. Die Richter begründen das mit einer Aussage, die den schlichten Sympathisanten-Verdacht zum juristischen Argument erhebt. Man müsse doch „die in erheblichem Umfange gleichgerichteten Interessen“ zwischen Beschuldigten und Verteidigern berücksichtigen, erklärt der Dritte Strafsenat, während doch die Interessen „eines Vollzugsbeamten und die eines Gefangenen durchaus gegensätzlicher Art sind“.Einer derart dünnen Argumentation mag Ende September 1972 Senatspräsident Paul Jericke in dem beginnenden Strafprozess gegen Horst Mahler nicht folgen. So lehnt er einen Antrag des Generalbundesanwaltes auf Entpflichtung von Mahlers Verteidiger Schily ab. Aus Sicht von Jericke sei der Beweis, dass definitiv ausgeschlossen werden könne, dass niemand anders als Schily den Kassiber aus der JVA Essen geschmuggelt habe, keineswegs erbracht. Insofern liege gegen diesen auch kein schwerwiegender Verdacht vor. Letztlich geht die Kassiber-Affäre für Otto Schily gut aus. Der Besitz jener unbekannten elektrischen IBM-Schreibmaschine mit Kugelkopf, die für den Kassiber verwendet worden ist, kann ihm nicht zugeordnet werden. Mitte Februar 1973 hebt das Bundesverfassungsgericht den Ausschluss von Schily aus der Verteidigung von Ensslin mit der Begründung auf, dies verletze die Freiheit seiner Berufsausübung.Für den britischen Konsularbeamten Ian Macleod geht die Kassiber-Affäre hingegen ganz anders aus. Weil auf dem Zettel von einem „Mac“ die Rede ist, ermittelt die Polizei gegen ihn. Als Beamte am 25. Juni, 6.30 Uhr, schwer bewaffnet an seiner Wohnung in Stuttgart klingeln, öffnet der schlaftrunkene Macleod kurz die Tür, um sie vor Schreck gleich wieder zuzuschlagen. Daraufhin erschießt ihn ein bis heute namenlos gebliebener Polizist mit seiner Maschinenpistole. Die weiteren Ermittlungen ergeben, dass Ian Macleod keinerlei Kontakte zu Linken, geschweige denn zur RAF nachzuweisen sind. Placeholder authorbio-1
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