»Hope I die before I get old« schrieb Pete Townsend 1965 in My Generation, dem Song der britischen Rockgruppe The Who, der mit bis dahin ungehörter Wucht den jugendlichen Zorn und die grundsätzliche Verweigerung der Elternkultur in die Rockmusik trug.
Kurt Cobains Band Nirvana gelang mit Smells Like Teen Spirit 1991 nicht nur zum bisher letzten Mal das Kunststück, in einem Song das Lebensgefühl einer Generation auf den Punkt zu bringen. Mit seinem Selbstmord auf der Höhe seines Ruhms wurde Cobain Mitglied im Club der toten Rocker von Jimi Hendrix über Jim Morrison zu Sid Viscious und Ian Curtis und als erster »MTV-Toter« (Spex) zur mythischen Figur der so genannten Generation X stilisiert.
»Hope I die before I get Pete Townsend« liest man jetzt in seinen Tagebüchern, die seit einigen Wochen auch auf Deutsch zu lesen sind. Für Cobain wird Pete Townsend stellvertretend zum Verräter, weil er sich von der Rock-Front auf befriedete Mainstreamgebiete zurückzog. Cobain zog es vor zu verbrennen, wie er in Anspielung auf einen Song Neil Youngs in seinem (in die Tagebücher nicht aufgenommenen) Abschiedsbrief schrieb. Wie all die anderen Rock-Toten, gleich ob sie einem elenden Unfall oder der eigenen Hand erlagen, umgibt Cobain die Aura eines Märtyrers. Gefallen im Dienst der Sache.
»Notizen« würde wohl treffender beschreiben, was aus angeblich rund achthundert Seiten unregelmäßiger und nichtdatierter Gedanken, Briefe und Listen, Ideen zu Songs und Videos, Comics und beiläufigen Zeichnungen versammelt wurde. Die deutsche Ausgabe verzichtet gegenüber dem US-Original auf viele Seiten, dafür gibt es neben den Faksimiles eine einfühlsame Übersetzung von Clara Drechsler und Harald Hellmann, die zudem in kurzen Anmerkungen Namen erklären und Zusammenhänge erläutern.
Cobain denkt über die Erzählperspektive seiner Songs nach und verortet sein Metier in der Kunstwelt. Manche Texte sind schlichte Fanzineprosa, andere flüchtig hingeworfene Selbstbezichtigungen oder, nicht nur zum Ende hin, paranoide Auslassungen, in denen er sich um den Verlust der wahren Werte sorgt. Oft formuliert er Ideen und Skizzen zu Songs und Videos in einem quasi-expressionistischen Stil, dessen Fransen in den Songs und Clips vorteilhaft gekappt sind. Bis zum Ende changieren Cobains Aufzeichnungen zwischen Teenager und erfolgreichem Künstler, unsicher, aber originell, voller Energie, aber undiszipliniert.
Townsend, seit dem eigenen erfolgreichen Entzug ein öffentlicher Kämpfer gegen Drogen, rezensiert die Tagebücher für den britischen Guardian als das »Gekritzel eines verwirrten und depressiven Drogenabhängigen« im klinischen Zustand einer »...beleidigten, kindischen, nöligen und selbstsüchtigen Sehnsucht, die Welt für alle ihre Übel anzuklagen, zu flüchten und (...) keine Verantwortung für das schließliche Scheitern zu übernehmen«.
Tatsächlich verdrängt Cobain zum Beispiel seine Abhängigkeit vom Heroin, mit dem er bereits 1987 in Berührung kommt, als therapeutische Maßnahme gegen die schweren chronischen Magenschmerzen, an denen er über lange Jahre litt. Und vor allem zum Ende hin klingen die Aufzeichnungen immer öfter nach einem gekränkten Halbwüchsigen, quengelnd, larmoyant und egozentrisch.
Bedrückt stellt man fest, wie gründlich verunsichert Cobain schon in der frühen Jugend war. Die Scheidung der Eltern verletzt ihn enorm, wie einem späten unversöhnlichen Brief an seinen Vater zu entnehmen ist. Traumatisch liest sich auch die Erinnerung an den ersten Versuch, mit einer Frau zu schlafen. Der Sex mit einem offenbar leicht zurückgebliebenen Mädchen scheitert zwar am Ekel vor deren Körpergeruch, aber Scham und Schulskandal treiben ihn schließlich in einen frühen Selbstmordversuch. Der freilich scheitert mit einer gewissen makabren Komik daran, dass der Zug, vor den er sich legen will, am Nachbargleis vorbeifährt.
Es ist jedoch zu billig, seinen leidenschaftlichen Hass auf die Gleichgültigkeit der Gesellschaft, auf Sexismus, Homophobie und den Ausverkauf aller Ideale ans mediale Spektakel mit dem Verweis auf die Kindheit weg zu psychologisieren. Nirvanas Nihilismus entsprach der metaphysisch und ökonomisch ernüchterten Jugend der Achtziger.
Die sarkastischen Widersprüche, die, etwa als massenkompatible Punkattitude, Nirvanas Musik durchziehen, finden sich, ungleich weniger attraktiv, auch in den Gedankenströmen der Notizen. Wo Cobain sich politisch äußert oder Punk als einzige Waffe gegen das Böse in der Welt beschwört, bebt sein Ton oft vor beinahe religiöser Inbrunst. Es gibt hellsichtige Bemerkungen zu Künstler und Betrieb, neben angewiderten Ausbrüchen gegen rechte Politik stehen elitäre Tiraden, in denen er das Elend der Welt in einem genetischen Defizit der breiten Masse begründet. Neben grellen Exposés zu Videos und Songs und ausdauernden Listen von Lieblingsbands finden sich Schübe trübster Depression und Lebensüberdrusses. Seitenlang zetert er, während ihn der Erfolg zermürbt, über Musikindustrie und -presse und ergeht sich in eher vagen Verschwörungsideen, die zum Schluss auch ehemalige Verbündete, Fans wie Kollegen einschließen. Und so grimmig er auf die Welt losgeht, so kleinlaut verweigert er Antworten, vermerkt mit koketter Selbstironie die eigene Ohnmacht und lamentiert über seinen begrenzten Horizont und die Verwirrung.
Es ist jedoch gerade die Mischung aus aufrichtiger Wut und hilfloser Einsicht in die Mechanismen der MTV-Kultur, die Cobain zur Ikone der Neunziger macht. Der Selbstmord, von Fans und Presse gern als letztmögliche Geste der Verweigerung verstanden, zementierte seinen Staus als Mythos. Die Tagebücher bestätigen aber die Analyse des Biografen Charles Cross, dass Cobain nicht arglos in den Ruhm stolperte und durchaus auch ironisch damit umzugehen wusste.
»3-malige Granny Gewinner, für 36 Wochen die Nr. 1 der Billbored-Charts. (...) Von Thyme und Newsweak als originellste, intellektuell anregendste, wichtigste Band unseres Jahrzehnts gefeiert«, tagträumt er früh, vermutlich irgendwann um 1990, lange vor dem großen Erfolg des zweiten Albums Nevermind.
Die kurze Notiz zeigt ihn, wie etwa auch eine frühe fiktive Konzertrezension, der blaue Brief an einen Drummer und die ständig erneuerten manifestartigen Bandbiografien, als höchst ehrgeizigen Künstler, der Erfolg und Anerkennung sucht. Andererseits verspottet er mit den Institutionen und Buchhaltern dieser Industrie - vom Musik-Oscar Grammy über das Branchenblatt Billboard zu den Nachrichtenmagazinen Time und Newsweek - auch die eigene Sehnsucht. Noch als Nirvana nur eine von mehreren vielversprechenden Bands war, die mit Punkenergie die erstarrte Rockszene aufmischten, gab sich Cobain keinen Illusionen darüber hin, dass es unter den hypermedialisierten Bedingungen der Neunziger kein Entkommen gab.
Bei allen Versuchen, durch strategische Manöver die Kontrolle zu behalten und auf Wahrhaftigkeit zu pochen, schwingt immer das Wissen mit, dass ihn selbst die lauteste Verweigerungsgeste umgehend in den »eMpty-TV«-Diskurs führen würde. Trotz Drogen, Depressionen und Verwirrung kommen Voyeure jedoch eher nicht auf ihre Kosten. Es gibt keine anekdotenreifen Geschichten von Backstage, noch bekommt man Einblick ins Innere der immer wieder skandalisierten Verbindung mit Courtney Love, die als Kurts Witwe und Mutter der gemeinsamen Tochter für die Auswahl der Handschriften verantwortlich ist. Von Beginn an wurde sie von Fans wie Presse als Yoko Ono des Grunge für alle Leiden ihres verwirrten Mannes zur Verantwortung gezogen. In den wenigen Tagebuch-Passagen, in denen sie auftaucht, scheint sie als die robustere zweier Problemgestalten eher stabilisierend auf Cobain zu wirken. Schon immer fand sie sich im Zwielicht der Unterhaltungsindustrie besser zurecht und konnte sie pragmatischer in ihrem Interesse nutzen. Ohne Zweifel ist Kurts Nachlass eine ordentliche Altersvorsorge.
Vier Millionen Dollar hat sich allein der amerikanische Verlag die Rechte kosten lassen. In Großbritannien haben sich die Tagebücher bereits zum schnellsten Verkaufserfolg seit einer großen Biographie über die Beatles entwickelt. Und auch die zeitgleich erschienene Sammlung von Cobains größten Hits wird dank eines nachgelassenen Songs nicht in den Regalen vergammeln. Sells like Teen Spirit, titelte ein Magazin.
In ihrer recht chaotischen Form sind die Tagebücher wohl eher als Devotionalie und Ergänzung zu den existierenden Biografien zu bewerten. Die Wahrheit über den Künstler Kurt Cobain wird man nicht in ihnen finden. Und der Persönlichkeit kam vermutlich der englische Musikjournalist Nick Kent schon 1994 in einem kurzen Nachruf recht nahe. Kent, über Jahrzehnte Protokollant der Verstrickungen von musikalischem Talent, Rock ´n´ Roll-Lifestyle und Selbstzerstörung, schrieb: »...this is just a sad little tale about a guy who never felt good about being alive, who channelled that screaming into a remarkable body of rock n roll performances, and who then ended it all by shooting his face off. One can only hope his soul has finally found some sort of rest.«
Kurt Cobain: Die Tagebücher. Übersetzt von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Kiepenheuer Witsch, Köln 2002. 350 S. 19,90 EUR
Charles R. Cross: Der Himmel über Nirvana. Kurt Cobains Leben und Sterben. Übersetzt von Bernhard Schmidt. Hannibal, Planegg 2002. 380 S. 25,90 EUR
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