Auch ein Fall von Cancel-Culture: Die DDR-Literatur wird im Westen ignoriert

Oschmann-Debatte Christa Wolf, Bruno Apitz, Heiner Müller: Auch die einst so gelobte DDR-Literatur wurde abgewickelt. Zeit für eine Anerkennung
Ausgabe 17/2023
Christa Wolf, eine der wenigen nicht abgewickelten DDR-Schriftstellerinnen
Christa Wolf, eine der wenigen nicht abgewickelten DDR-Schriftstellerinnen

Foto: teutopress / Imago

Dass etwas schief gelaufen ist mit der Überführung der DDR-Literatur in das gesamtdeutsche kulturelle Gedächtnis, merkt man, wenn man in Antiquariaten ist. Die Ost-Ausgabe der Werke Bertolt Brechts ist für wenig Geld zu haben, Anna Seghers wird verramscht. Nachdem die DDR-Germanistik als ideologisch abgestempelt und durch eine Art Gesinnungstreuhand abgewickelt worden ist, bekommt man heutzutage die äußerst verdienstvolle Geschichte der deutschen Literatur des „Autorenkollektivs“ fast geschenkt. Auch DDR-Ausgaben, wie die des Romantikers Joseph von Eichendorff oder des Aufklärers Gotthold Ephraim Lessing, bestechen durch philologische Genauigkeit und luzide Kommentare.

Die großartigen Leistungen des Literaturbetriebs in der DDR und ihrer Wissenschaft sind heute größtenteils vergessen oder antiquarisch. Sie sind Nachrichten aus einem verschwundenen Land, aus einer scheinbar untergegangenen Kultur. Ich sage dies als Westdeutscher, der aufgrund eines großartigen Lehrers an einem westdeutschen Gymnasium recht früh mit Christa Wolf, Hermann Kant, Fritz Rudolf Fies, Bruno Apitz, Heiner Müller und vor allem mit den ostdeutschen Übersetzungen russischer Literatur in Berührung gekommen ist. Ostalgie ist bei mir daher rein literarisch und kulturell, manchmal auch ein bisschen politisch. Die Leipziger Buchmesse ist ein willkommener Anlass, an das Vergessene, Verdrängte, Gecancelte der DDR-Literatur und -kultur zu erinnern.

Ordnung der Archive

Dirk Oschmann hat von einer „Löschung des Textgedächtnisses“ der Deutschen Demokratischen Republik gesprochen. Dies ist ein Befund, keine Warnung. Oschmann hat vollkommen recht. Wer weiß heute noch, dass Bruno Apitz’ Nackt unter Wölfen genuine Literatur der DDR ist? Wer kennt noch Fritz Rudolf Fries’ Verlegung eines mittleren Reiches von 1984?

Die apokalyptische Geschichte einer Welt nach dem Atomkrieg wird in Fragmenten und losen Aufzeichnungen erzählt, die Ebenen der Wirklichkeit ineinander verschachtelt, der Leser in Unruhe versetzt. Umbrüche sind eben auch Umbrüche in der Ordnung der Archive und der Rezeption. Ohne die Reverenz an Fries ist daher, um in der Gegenwart anzukommen, Uwe Tellkamps neues Buch, Der Schlaf in den Uhren, meines Erachtens nicht zu verstehen.

Jüngst hat Clemens Meyer in seinem Buch über Christa Wolf noch einmal die DDR-Literatur als Referenzsystem seines Schreibens hervorgehoben. Es ist nicht nur ein Buch über Christa Wolf, sondern ein Buch über die vergessenen Autorinnen und Autoren der DDR-Literatur wie Werner Heiduczek, Erik Neutsch und andere. Meyer braucht dazu gar keinen Ost-West-Konflikt aufzumachen.

Nicht canceln

Es wird sehr deutlich, dass sein Schreiben wesentlich mehr der Lektüre von Bräunig, Wolf, Schernikau, Fühmann und anderen verdankt, als westdeutsche Literaturwissenschaftler glauben, die ihn etwas vorschnell in klassistische Kategorien einordnen. Beide, Tellkamp und Meyer, machen in ihren Büchern deutlich, dass die Tradition „DDR-Literatur“ existiert, im Osten mehr als im Westen. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil unserer gemeinsamen literarischen Tradition.

Als solche muss sie anerkannt, sie darf nicht gecancelt werden. Sie verdient Respekt, vor allem von Westdeutschen, die sich in ihrer bildungsbürgerlichen oder identitätspolitischen Bubble eingerichtet haben. Ich wünsche mir für die zukünftige Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition der DDR, dass ihr Eigenwert endlich anerkannt, dass der postkoloniale Status der ehemaligen DDR-Gebiete endlich gesehen wird.

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