Mehr Popsong als tiefschürfender Roman: Moritz Baßlers Theorie vom „Populären Realismus“
Literatur Gibt es noch gute Gegenwartsprosa? Oder wird nur viel geraunt? Der Germanistikprofessor Moritz Baßler hat da eine Theorie und die nennt sich „Populärer Realismus“
Gibt es Standards für „gute“ und „interessante“ Gegenwartsliteratur? Fest steht: Es wird so viel gelesen wie noch nie. Auch die Anzahl der Menschen, die über Literatur reden, hat sich quantitativ erhöht. Was auch die Hüter des literaturkritischen Grals irritiert. Ist das lesende Volk in Sachen Literaturkritik überhaupt ein urteilsfähiges Volk? Auch darüber wird – nicht frei von Dünkel – gestritten.
Das neue Buch von Moritz Baßler kommt da wie gerufen. Der Münsteraner Germanist hatte zuletzt mit seinem Frankfurter Kollegen Heinz Drügh ein viel diskutiertes Buch zur Gegenwartsästhetik vorgelegt (der Freitag 44/2021) und mit seinem Aufsatz über den sogenannten „Neuen Midcult“ provo
2;Neuen Midcult“ provoziert. Mit „Midcult“ ist nach Baßler die Eigenschaft einer Literatur gemeint, die versucht, Ethik und Ästhetik auf eine Weise zusammenzubringen, die formal uninteressant und inhaltlich banal ist. Das nun vom viel beschäftigten Juror bei Literaturpreisen allein geschriebene Buch geht von den Befunden zum „Neuen Midcult“ aus und wendet sie exklusiv auf die Gegenwartsprosa an. Die Midcult-Saga geht also weiter und man kann die Reihe und jetzt das Werk zum Populären Realismus, böse gesagt, fast schon als serielle Theorieproduktion Münsteraner Provenienz beschreiben.Was meint „Populärer Realismus“? Baßler glaubt, dass das gegenwärtige Erzählen durch einen globalisierten Stil zusammengehalten wird, den er „International Style“ nennt. Der Ausdruck stammt aus der Architekturdebatte des 20. Jahrhunderts und bedeutet ungefähr, dass man den Stil eines van der Rohe, eines Norman Foster überall auf der ganzen Welt erkennt, egal, wo das Gebäude, der Stuhl oder anderes steht.Überfordert uns nichtBaßler überträgt dieses Verfahren der Wiedererkennbarkeit von Objekten, das ja keine kulturelle oder kontextuelle Differenzierung kennt, auf die Literatur. Der Populäre Realismus sei „Literatur für alle“. Er sei nicht unbedingt an Inhalte gebunden, sondern an die Machart, an den Stil, der global oder international funktioniert. Der Populäre Realismus überfordere uns nicht. Die erzählte Welt ist bisweilen einfach, auf jeden Fall medial und kulturell anschlussfähig und gut übersetzbar.Für Baßler gibt es nun den guten und den schlechten Populären Realismus. Der gute Populäre Realismus will stylish sein, cool, er verhehlt gar nicht sein Wirken als Teil einer internationalen Marketingmaschine. Literatur dieser Machart versetzt uns in eine erzählte Welt, die auf Wiedererkennbarkeit (Marken, Popsongs) ausgerichtet und seriell angelegt ist. Nicht von ungefähr ist für Baßler Fantasyliteratur der „Inbegriff des Populären Realismus“.Der schlechte Populäre Realismus ist der, der keiner sein will, sondern Hochliteratur oder, wie Baßler schreibt, „traditionelle Romanliteratur des Abendlandes“. Sie ist, wenn sie in der Gegenwart auftaucht, reine Prätention, weil sie moralische, bildungsbürgerliche oder politische Erwartungen einfach nur bestätigt. Die Form nennt Baßler daher, wie schon gesagt, Neuen Midcult, also Literatur, die mit schweren Inhalten arbeitet, aber dies in einer Art und Weise tut, die erschreckend einfach ist. „Wer heute noch im Avantgardekanal raunt,“ schreibt Baßler, „muss sich zweifellos Fragen gefallen lassen, etwa solche nach Pose, Substanz und Zugänglichkeit.“Wenn es eines Beweises bedurft hätte, dass an Baßlers Thesen etwas dran ist, zeigt dies die Debatte um die Vergabe des deutschen Buchpreises an Kim D’Horizon. Ist Blutbuch (der Freitag 42/2022) ein Beispiel für schlechten Populären Realismus im Sinne Baßlers? Die non-binäre Identität des Erzählers wird recht früh deutlich, aber die Frage ist ja, ob das Erzählen über Klasse, Geschlecht, Traumata, das den Text zusammenhält, auch formal interessant und ästhetisch innovativ ist. Doch das Bekenntnis steht eben im Vordergrund.Der Anspruch, gegenwärtiges Erzählen fast schon in Gänze erfassen zu wollen, geht bei Baßler jedoch manchmal zulasten der Genauigkeit in der Auseinandersetzung mit den Texten, zum Beispiel bei Elena Ferrante. Spät gelang Ferrante mit ihrer berühmten Neapolitanischen Saga der internationale Durchbruch, sowohl auf dem Buchmarkt als auch bei der Literaturkritik, nicht jedoch bei Baßler. Der „glatte Realismus“ von Ferrantes Meine geniale Freundin zeichne sich durch „international goutierbare Italianität“ aus, analysiert er. Das ist so falsch wie polemisch. Die Geschichte von Raffaela (Lila) Cerullo und Elena Greco, die in den 1950ern in einem Armenviertel von Neapel aufwachsen, in der es immer wieder um Lesen und Schreiben und das Versprechen von Emanzipation und Befreiung geht, lässt sich nicht einfach als „störungsfreie Prosa“ beschreiben. Sie kommuniziert nicht nur „Italianità“. Ja, man muss diese Italianisierung Neapels sogar ablehnen: Italien ist nicht Neapel, Napoletanità niemals Italianità. Die vierbändige Saga klärt nordeuropäische Leser*innen über Exklusionsmechanismen einer nach wie vor existierenden Klassengesellschaft auf, sie zeigt, dass die Familie in Italien weniger ein Ort der Intimität ist, sondern ein Machtzentrum. Die „eingängige Machart“ des Textes ist es sicherlich, die für den Erfolg verantwortlich ist. Dass es auch mit Inhalten und dem hohen Identifikationspotenzial der Figuren und Schauplätze zu tun haben könnte, kommt Baßler nicht in den Sinn.Für Baßler ist die Zeit, in der wir leben, geprägt von den „demokratischen, ökonomischen und medialen Bedingungen der westlich geprägten Überflussgesellschaften“. Das klingt realistisch. Lesen ist unter diesen Bedingungen dann, wie gesagt, eher Konsum als Bildungserlebnis. Als Theoretiker des Populären polemisiert er stark gegen die Gralshüter der Literaturkritik und der Hochkultur, die immer noch an schwere Inhalte glauben und der Literatur gesellschaftskritisches Potenzial unterstellen. Baßlers Schreiben atmet die Atmosphäre der superironischen und bisweilen zynischen Postpunkära. Es wird bisweilen sehr provokant. Baßler mag offensichtlich Daniel Kehlmann nicht, Heinrich Böll augenscheinlich auch nicht, dem unterstellt wird, er verbinde „bildungsbürgerlich-religiöse Hochkultur, schwere Geschichtszeichen und krasse Gewalt zu – man muss es wohl so deutlich sagen – Kitsch“. Ja, okay, möchte man meinen, aber irgendwann erschöpft sich dann auch die rebellische Geste. Und dass der gute Mann von Köln auch seine Schattenseiten hatte, zeigen Bölls Briefe aus dem Krieg.Man hat bisweilen das Gefühl, Baßler wolle unbedingt Denkmäler wie Böll und Kehlmann stürzen und gemein sein. Aber auch diese Simulation von Kulturrevolution erschöpft sich irgendwann; im Leben und auch zunehmend während der Lektüre des Buches. Wer Literaturgeschichte oder die Auseinandersetzung mit Literatur auf „Erzählverfahren“ reduziert, der mag irgendwann nicht anders können, als Wolf Haas gut zu finden. Und das ganze Spektrum der Gegenwartsliteratur erfasst man damit schon gar nicht: Was ist mit Uwe Tellkamps Der Schlaf in den Uhren? Dieser umstrittene Text widerlegt Baßlers These auf das Feinste. Trotz offenbarer Inhaltsschwere und formaler Komplexität ein Bestseller, trotz schwerer Zeichen wie Wiedervereinigung gut lesbar. Dass Tellkamps Text und seine erzählte Welt nicht ohne Anspielungen auf die romantische Fantastik eines E.T.A. Hoffmann, in der ja immer zwei Wirklichkeiten aufeinanderprallen, auskommt, zeigt schon die Bezeichnung „Vigilie“ für Kapitel, die aus Hoffmanns Der goldene Topf stammt. „International“ an Tellkamps Schreiben ist überhaupt nichts, Eingängigkeit fehl am Platze. Baßlers Ansatz funktioniert also nicht. Dennoch: Er führt zu interessanten Ergebnissen. Christian Kracht beispielsweise ist für ihn ein Held des Postironischen, also eines Schreibens, das die Ironie, die ja eine Distanz von der Wirklichkeit und vom Sprechen über sie ermöglicht, bereits hinter sich gelassen hat. In dieser Postironie liegt Krachts Realismus.Aber Texte und Literaturwissenschaft auf diese Weise durchgehend politisch zu immunisieren, geht eigentlich nicht. Vielleicht ist es jedoch das, was wir wollen, weil wir den Mut zur Dissidenz verloren haben. Warum das so sein könnte, führt Baßler trotz aller Kritikwürdigkeit seines Ansatzes sehr eingängig, exemplarisch und gut lesbar vor. Der/die Leser*in vermisst ein Literaturverzeichnis, das Register wiederum ist sehr gut. Von diesem Buch werden wir – in der Literaturwissenschaft und Literaturkritik, in der Kulturtheorie – noch viel hören. Wir wünschen ihm viele Konsument*innen.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1
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