„Heinrich“ von Susanne Fritz: Notizen eines Naziaufsteigers

Roman Nach der Würdigung ihrer Mutter im vorherigen Roman, geht Susanne Fritz in „Heinrich“ den Lebensspuren ihres Vaters nach: Ein virtuos komponierter Roman, in dem die Vaterfigur repräsentativ für eine ganze Nachkriegsgeneration steht
Ausgabe 21/2023
Deutsche Soldaten im Schützengraben bei Barawucha
Deutsche Soldaten im Schützengraben bei Barawucha

Foto: Picture Alliance/akg-images

Fotografien sind Aufnahmen des Moments, also ein Einschnitt in der Zeit. Genau dieser Erinnerung, ihrer möglichen Form, widmet sich Susanne Fritz’ Roman Heinrich. Nachdem die Freiburg-Berliner Schriftstellerin sich mit Wie kommt der Krieg ins Kind (2018) auf die Suche nach dem Leben der Mutter gemacht hat, geht sie nun den Lebensspuren einer im Roman „Heinrich“ genannten Person nach. Man kann die Konstruktion des Vaters im Text als autofiktional beschreiben. Lediglich zwei Fotos von Heinrich haben sich erhalten: „Das eine zeigt ihn unter hundert anderen beim Gauturnfest auf einer Wiese, das andere ist ein Porträt des minderjährigen Rekruten, aufgenommen in seinem Heimatort von einer Kamera, die oft letzte Bilder schoss.“

Überhaupt spielen die Medien des Erinnerns eine große Rolle im Text. Der/die Leser*in hat es im Roman mit einem Multiversum aus autobiografischen Texten und Medien zu tun. Die Erzählerin bedient sich aus Tagebüchern, sie liest Briefe ihrer Eltern, Notizblöcke und lässt sich von abgetippten Stenorette-Kassetten inspirieren. Aus diesem Medienuniversum rekonstruiert Susanne Fritz die Geschichte Heinrichs.

Lyrisch und meditativ

Erinnerung, das zeigt Susanne Fritz’ Roman sehr deutlich, ist ohne Materialität der Erinnerung nicht zu denken: Es sind Medien, die die Vergangenheit in den Moment des Erinnerns übertragen. Dieser Moment ist von höchster poetischer Intensität. Das autofiktionale Selbstexperiment führt zu einer gut lesbaren Erinnerungsprosa, deren Rhythmus eigentümlich, ja gleichsam lyrisch und meditativ ist.

Die Figurenbiografie von Heinrich ist aber mehr. Sie steht für viele Lebensläufe der Ende der 1920er Jahre geborenen Generation, die man auch die skeptische genannt hat. Heinrich, so erzählt es der Text, ist Angehöriger der deutschen Minderheit in Polen und wächst in ärmlichen Verhältnissen auf, aus denen er sich mithilfe der nationalsozialistischen Mobilitätsmaschine befreit. Die Institutionen des Nationalsozialismus, Hitlerjugend, Waffen-SS und andere mehr, waren, wie Götz Alys Arbeiten zeigen, Institutionen der sozialen Mobilität nach oben, die auf einem rassistischen Ressentiment der intellektuellen und kulturellen Minderwertigkeit gegenüber Juden beruhten – jener viel beneideten Aufsteigerklasse des 19. Jahrhunderts. Auch Fritz’ Heinrich ist so ein typischer Naziaufsteiger, der sich nur Gedanken macht über sein Fortkommen.

Auf einem „Notizblock“ findet die Erzählerin Dokumente des kleinbürgerlichen Aufstiegswillens, den die NS-Institutionen bedienen. Nicht durch Bildung, sondern durch den Willen zu Selbstopferung und der permanenten Selbstoptimierung gelingt der Aufstieg: „Ich war der Beste, Schütze und Langläufer“, „ritterkreuzverdächtig (deshalb zog ich freiwillig in den Krieg)“. Die Erzählerin kommentiert, ohne die Mechanismen im weiteren Verlauf des Buches zu dokumentieren: „Der Aufstieg führt weniger über klassisches Bildungsgut als über Geschick und Sportlichkeit.“ Die Nachkriegszeit ist dann die Zeit der biografischen und geistigen Kehre: Aus Soldaten werden Pazifisten, die ihre Gräueltaten vergessen haben, aus Profiteuren der nationalsozialistischen Mobilitätsinstitutionen Opfer derselben. Heinrich wird Architekt. In der Nachkriegsarchitektur ist das Narrativ des Wiederaufbaus, Neubeginns prägend. Die Geschichte derer, die hier vorher gewohnt haben und deportiert worden sind, vergessen.

Die Sätze sind knapp und verdichtet, die sprachlichen Bilder oft von kristalliner Klarheit. Was ein bisschen nervt, ist der unbedingte Wille der Autorin, am zeitgeschichtlichen Diskurs zu partizipieren. Heinrich träumt, ohne Gedanken an die Verbrechen der Wehrmacht in der Ukraine zu verschwenden, vom Bürgermeisterposten in Dnipropetrowsk, dessen Name entrussifiziert worden ist und heute Dnipro heißt. Hier kommt der Erzählerin natürlich der Ukraine-Krieg in den Sinn, jene „Zeitenwende“, die unsere Gegenwart prägt. Zeitgeschichtliches Schreiben funktioniert aber auch ohne allzu offensichtlichen Gegenwartsbezug. Man sollte diesen den Leser*innen überlassen.

Heinrich Susanne Fritz Wallstein Verlag 2023, 201 S., 24 €

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