Beinahe wie eine Psychoanalyse, also um Bilder und Metaphern kreisend und in Verzweigungen, auf Umwegen und mit Wiederholungen sich an die eigentlichen, die schmerzhafte Punkte herantastend, so muss man sich Ines Geipels Umkämpfte Zone: Mein Bruder, der Osten und der Hass vorstellen.
Ines Geipels Umkämpfte Zone ist zuerst eine persönliche Vergangenheitsbewältigung, ein Trauma-Buch. Es setzt ein mit dem Tod des Bruders Robby, von dem sich die Autorin seit einigen Jahren entfremdet hat. Etwas Trennendes hatte sich zwischen die beiden geschoben; es verschwindet erst kurz vor dem Ende, als der Bruder sie endlich von seinem unheilbaren Hirntumor wissen lässt. Sie, die als Kinder unzertrennlich waren, fanden über Jahre nicht zueinander. Geschwister, wie durch eine unsichtbare Mauer getrennt, obwohl die echte Mauer seit Jahren schon nicht mehr existiert. Den Bruder begleitet sie in den letzten Lebenswochen. Nach seinem Tod bleiben Geipel die Fotos des gemeinsamen und getrennten Lebens, die er in Kisten sammelte. Das Verschwinden, sagt Geipel, sei sein Thema gewesen.
Sechs Kinder für den Führer
Das Vergessen, das Verdrängen ist das Thema der Schwester, die mit dem Tod des Bruders einen abgespaltenen Teil ihrer Geschichte wieder übernehmen muss. Das ist ein fast unfassbarer Ballast aus familiären Verstrickungen in gleich zwei deutschen Diktaturen. Da ist der Großvater, der sich freiwillig für den Einsatz an der Ostfront meldete, schließlich nach Riga, eine der Hauptstädte des Judenmordes, geschickt wurde. Ein Aktenvermerk: Der in Riga angekommene Großvater ordert Betten, Tische und Wäsche aus Ghetto-Beständen. Und da ist die preußisch-strenge Großmutter, die dem Führer sechs Kinder gebar und bis zuletzt befand, dass der Führer immerhin „Glanz“ gehabt hätte. Da ist der Vater, ein Stasiagent, ein Musiker, der für schwierige Einsätze trainiert, schließlich acht Identitäten besitzt und im Aktenvermerk als „hemmungslos“ charakterisiert wird. Und zuletzt ist da die Mutter der Geschwister, die nicht nur über NS-Taten des Großvaters schwieg, sondern auch dabei zusah (oder wahlweise wegsah), wenn der Vater die Kinder zu Objekten machte, Objekten der Gewalt und des häuslichen Terrors: Stechpuppen, wie es Geipel nennt.
Das ist, so muss man konstatieren, eigentlich zu viel für eine Biografie oder eine Familiengeschichte. Ines Geipel will aber auch offensichtlich mehr, als ihre Vergangenheit durch das Schreiben bewältigen. Ihre Geschichte will repräsentativ stehen für die kollektiv psychologischen Folgen, die man heute überall beobachtet. Verdrängtes und Verleugnetes prägen die deutsche Gesellschaft ja bis heute.
Ines Geipel konfrontiert sich und uns dabei mit ihrer Vergangenheit. Sie schaut auf drei Generationen – die Kriegsgeneration, die Kinder der Täter und Mitläufer und schließlich die Enkelgeneration. Geipel unterzieht dabei eine ganze Gesellschaft einer Form der Psychoanalyse, sie tut das in einer poetischen Sprache, die immer wieder zu den richtigen Wortbildern findet. Zum Beispiel da, wo sie von den Schlafkuren spricht, die den traumatisierten DDR-Bürgern in den 1950er Jahren anempfohlen wurden. „Schlafkammern des Vergessens“, das Gegenbild zur Freud’schen Couch. Der durch Schlaf Geheilte wird zurück in den Alltag entlassen. „Aufstehen! So geht Kommunismus, jeden Tag neu.“
Geipel nennt eine interessante Theorie des Historikers Gerd Koenen, wonach die Spaltung Deutschlands in einen Ost- und Westteil erst einen Modus zur Vergangenheitsbewältigung bereitstellte: Das eigene Land konnte zum entnazifizierten Teil Deutschlands erklärt werden, während das dunkle Erbe der Schuld auf die andere Hälfte des Landes projiziert wurde. Etwas von dieser Spaltung und Trennung, so ahnt man, betrifft auch das Bruder-SchwesterPaar. Geipel flüchtet im Sommer 1989 in den Westen, sie lässt den Bruder zurück. Nicht, dass einer der beiden Schuld auf sich geladen hätte. Aber in der individuellen Vergangenheitsbewältigung wurde der jeweils andere zur Leerstelle.
Geipel liefert darüber hinaus eine spannende psychoanalytische Lesart des Phänomens der Brutalität der ostdeutschen Gesellschaft, die sich oft genug in den kleinen Gesten der Verächtlichkeit und Mitleidlosigkeit oder eben der Wut zeigt. Weil sie aber von der eigenen Geschichte ausgeht, wirkt diese Deutung nie wie Küchenpsychologie, vereinfachend oder eindimensional. Dafür aber umso ernüchternder. Zum Beispiel dann, wenn sie den Amok als Phänomen einer Generation beschreibt, und zwar nicht nur, wenn sie vom Amoklauf an einem Erfurter Gymnasium oder dem NSU-Terrortrio berichtet.
Der Terrorist zu Hause
Geipel, Jahrgang 1960, widmete sich in ihren Büchern schon häufig den Themen Amok und Mauergeneration. In Umkämpfte Zone geht es zum Kern: Der Vater als Terrorist im eigenen Haus gehört dabei zu den erschreckendsten Teilen der autobiografischen Reflexion. Mehrfach versichert Geipel, dass all das erzählt werden muss. Auch die Schilderung, wie der Vater eine Hautkrankheit ausbildet, die seine Haut in Schuppenregen abfallen lässt, wie er in stinkenden Tinkturen badet und die Wunden doch immer größer werden. Das ist nicht nur eindringlich: Es liefert die Bilder für eine insgesamt emotional verkümmerte, zerfallende Gesellschaft.
30 Jahre Mauerfall. Geipels Buch ist ein wichtiger Beitrag. Ihr Blick auf die DDR-Gesellschaft ist nicht neu, gleichwohl beschreibt sie eindrücklich, wie stark das Generationenverhältnis bis heute belastet ist, wie die Vergangenheit hinauswirkt, ihre Spuren hinterlässt. Geipel hat mit der Erschließung der eigenen Familien-Krypta, wie sie es nennt, begonnen. Es werden noch viele ihrem Beispiel folgen müssen. Die eigenen Traumata zu sehen und verstehen zu lernen, auch darum geht es.
Info
Umkämpfte Zone: Mein Bruder, der Osten und der Hass Ines Geipel Klett-Cotta 2019, 277 S., 20 €
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