Kürzlich an der Bushaltestelle.Ich beobachte drei Teenager, die einem Mädchen das Fahrrad wegnehmen. Ihr Anführer fährt ein paar Kreise mit dem Rad, springt von der Bordsteinkante auf die Straße. Das Mädchen läuft hilflos hinterher. Ich gucke den Jungen eine Weile lang böse an. Nichts passiert. Irgendwann platzt mir der Kragen: „Du gibst jetzt sofort das Fahrrad zurück!“ Die drei Teenager merken auf. Dann stellen sie sich um mich herum auf. Einer sagt: „Entschuldigen Sie bitte, aber ich denke nicht, dass Sie das Recht haben, sich in unsere Angelegenheiten einzumischen.“
Mit Autorität muss man Kindern von heute gar nicht erst kommen. Ihre Eltern haben aus zig Erziehungsratgebern gelernt, dass man mit einem Kind auf Aug
nd auf Augenhöhe redet. Zwang, gar Autorität, grenzt in der Super-Nanny-Welt an Gewalt.Und hier setzt Paul Verhaeghes Buch Autorität und Verantwortung an. Verhaltensauffällige Jugendliche und politikverdrossene Erwachsene seien das Produkt des gleichen beklagenswerten Verlusts von Autorität, sagt Verhaeghe. Nun erschienen in den letzten Jahren durchaus einige Erziehungsratgeber, die mehr Autorität forderten. Gemeint war aber meist mehr blinder Gehorsam.Genau darum geht es dem Psychoanalytiker Verhaeghe nicht. Die alte Form der Autorität, nach deren Wiederherstellung sich so mancher sehnt, ist für Verhaeghe untrennbar mit der patriarchalen Ordnung verbunden. In ihr erhält der Vater qua Geschlecht die Vormacht über Frau und Kinder. Mit dem Untergang des Patriarchats aber wurde die väterliche Autorität entkernt. Zu Recht, meint Verhaeghe, weil es sich letztlich um eine schlechte Form der Autorität handelte.Deliberative DemokratieAber was genau wäre dann gute Autorität? Verhaeghe nimmt uns mit durch ihre Begriffsgeschichte, die ihn von Immanuel Kant über Sigmund Freud bis zu Hannah Arendt führt. Deren Autoritätsverständnis macht er sich zur Arbeitsgrundlage. Vor allem vom Begriff der Macht sei die Autorität abzugrenzen: Macht sei eine Zweierbeziehung, bei der der Mächtige Gewalt und Zwang gegen einen anderen ausüben könne, ohne sich vor einem Dritten verantworten zu müssen. Autorität beinhalte zwar auch Macht; der Unterschied bestehe aber darin, dass Autorität mit Verantwortung einhergehe. Am besten lasse sich das am Beispiel der Autorität der Eltern gegenüber ihren Kindern zeigen, die kein Selbstzweck ist, sondern auf Verantwortung für Kind und Gesellschaft beruht.Verhaeghe lässt es mit der Analyse der Eltern-Kind-Beziehung aber nicht bewenden. Er widmet sich auch dem Verhältnis von Bürgern und Demokratie und kommt zu einer schlüssigen Diagnose der aktuellen Krise der Politik. Das derzeitige politische System sei eines der Mächtigen. Diese Mächtigen sind aber gar nicht die Politiker, sondern die Märkte. Da die Märkte Macht haben, aber keine Verantwortung tragen, da die Politiker Macht beanspruchen, aber keine gute Form der Autorität verkörpern, entfremden sich Bürger und Politik voneinander. Paul Verhaeghe konstatiert zu Recht, dass eine machtlose Politik, die Autorität behauptet, wo keine ist, zwei Formen des Auswegs produziert: Entweder verfallen die Wähler den Populisten, die sich auf alte Formen der Autorität berufen, immer um den Preis der Ausgrenzung von vielen; oder aber die Politik tritt die Macht an die Technokraten ab, die vorgeben, als Sachverständige die politischen Geschäfte besser leiten zu können. Beide beanspruchen Autorität, ohne dabei Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen.Dass Volksentscheide einen Ausweg aus der Demokratiemüdigkeit bieten könnten, hält Verhaeghe für unwahrscheinlich. Da komplexe politische Fragen bei Volksentscheiden auf einfache Ja-oder-nein-Fragen heruntergebrochen würden, seien sie keine Grundlage für verantwortungsvolle Politik. Als Ausweg aus der Politikverdrossenheit sieht Verhaeghe die deliberative Demokratie. Er orientiert sich am Modell des Kommunikationswissenschaftlers James Fishkin, dem deliberative poll, bei dem eine für die Bevölkerung repräsentative Gruppe von Wählern zusammengestellt wird, die nach gründlicher Beratung durch Experten über ein Vorhaben der Gemeinschaft entscheidet. Die ausgewählten Bürger haben kein Mandat durch die Wähler erhalten, sollen aber deren Interessen repräsentieren. Ihre Autorität erwächst aus der Verantwortung, die sie für die Gruppe tragen.Hier nun hat das Buch eine Schwachstelle: Das Thema des Deliberationsforums wird angerissen, aber nicht gründlich diskutiert. Gerade über die Praktikabilität würde man gern mehr erfahren. Denn auch das hier favorisierte Modell setzt eine Auswahl von Wahlbürgern voraus. Was nicht weniger heißt, als dass derjenige, der auswählt, die Entscheidungen maßgeblich beeinflussen kann. Und da die Bürger als Entscheidungsträger auf Experten angewiesen sind, die sie informieren, wird auch hier die Macht der Experten nicht eliminiert. In diesem Sinne kann man Verhaeghes Buch als interessanten Stichwortgeber verstehen, der dazu beitragen kann, unser Verhältnis zur Autorität zu normalisieren.Placeholder infobox-1