Blicke in den Riss

Gewebe In Leipzig zeigt eine Austellung, wie eng die hohe Kunst mit dem schlichten Handwerk verstrickt ist
Ausgabe 22/2020

Klack, klack, zwei Maschen aufnehmen, eine fallen lassen. Der ein oder andere hat es im Handarbeitsunterricht probiert, früher die Großmutter beobachtet oder ganz trendy selbst zu den Nadeln gegriffen: Das traditionelle Handwerk, dem stets Biederkeit anhaftete, erlebt nicht nur ein Comeback in einschlägigen Hobbyläden. Immer häufiger rückt die Nahtstelle zwischen Kunst und Handwerk in den Fokus von Ausstellungsmachern. In der Galerie für Zeitgenössische Kunst in Leipzig ist das nicht nur dem Titel nach der Fall. Kunst_Handwerk macht die Nahtlinien, Verstrickungen und geschmeidigen Übergänge zwischen den Disziplinen erlebbar.

Eher weiblich konnotiert

Bereits im Unterstrich manifestiert sich aber auch der Bruch zwischen beiden, der sich mit dem Anbeginn der Moderne herauskristallisierte. Noch die größten Maler der Renaissance, von der Nachwelt als entrückte Genies gefeiert, galten zu ihrer Zeit (nur?) als vollendete Handwerker. Erst seit dem 20. Jahrhundert gilt dann, dass Kunst nicht mehr von Können kommen muss. Jedenfalls nicht vom handwerklichen. Diese Trennungen sind ihrem Wesen nach nicht nur künstlich. Sie haben durchaus eine geschlechterdiskriminierende Dimension. Das Fadenhandwerk beispielsweise ist eher weiblich konnotiert. Und Handwerkstraditionen wie das Körbe- und Mattenflechten, hierzulande allenfalls noch als pittoreske Erinnerung an vergangene Zeiten praktiziert, wurden zur Chiffre für afrikanisches oder orientalisches Kunsthandwerk, das man in Eine-Welt-Läden shoppen kann, wenn man sich den eigenen Kosmopolitismus vor Augen führen möchte. Der Westen macht Kunst, der Osten macht Handwerk?

Solche überkommenen Zuschreibungen dekonstruiert die von Barbara Steiner und Franciska Zólyom kuratierte Ausstellung mithilfe von insgesamt acht künstlerischen Positionen. Das Raumkonzept stammt von Modern Temperament. Die Gegebenheiten der Galerie – ihre durch Trenn- und Glaswände halb offenen, halb geschlossenen Räume – kommen der Ausstellung dabei zugute. Es wirkt, als streife man durch Korridore, Gänge und Zimmer, die von Künstler*innen bespielt sind.

Das Gewebe im Raum wird dabei immer wieder zum Thema. So auch in Haegue Yangs Rauminstallation A Crated Emergency Route: Escaping and Locking (2012). Drei polygonale Objekte, die an Paravents erinnern, tragen handgestrickte Farbkompositionen, koreanische Webereien und Jalousien aus industrieller Massenfertigung. Die Installation nimmt hier das Motiv des Paravents als mobile Trennwand und dekoratives Raumobjekt auf. Sie spielt mit dem Gegensatz von persönlicher Fertigung, tradierten Mustern und von Menschenhand befreiter Fertigung. Vor allem ist die Arbeit ein sinnliches Spiel mit Farbe und Licht, mit Dichte und Durchlässigkeit.

In den Arbeiten von Antje Majewski und Olivier Guesselé-Garai markieren Körbe und Knüppel den Übergang vom Gebrauchsgegenstand zur Kunst. Context matters, gerade in der Kunst. Der Korb wird hier als Objekt inszeniert, schlichtweg dadurch, dass er der Sphäre des Alltäglichen entrückt und mit Duchamp’schem Gestus in die Mitte der Installation gesetzt wird. Die zahlreichen Verflechtungen, die ihn entstehen lassen, bleiben im Objekt sichtbar. Ausstellungsobjekte befühlt man in aller Regel nicht. Hier aber kann sich die Hand kaum zurückhalten, will zugreifen.

Stoff, Gewebe, Textur

Die Themen dieser Schau – Stoff, Materialität, Gewebe und Textur –, sie alle bieten reichhaltige Metaphern für Prozesse des Verbindens und Verknüpfens. Am sinnfälligsten, weil es eben bereits im Namen der Künstlergruppe abgebildet wird, ist es im Falle von Slavs and Tatars. Slawische Sprache und Kultur treffen auf persisches Erbe. In der Rauminstallation Friendship of Nations (2011) tragen großformatige Stoffrechtecke geometrische Muster der islamischen Tradition. Die Schriftzeichen werden in ihrer Dimension der verwegenen Linienführung offenbar, sie sind in nicht traditionellen Farben und Materialien aufgebracht. Die wiederum erinnern in ihrer stofflichen Beschaffenheit eher an traditionelle polnische Trachten in heiterer, bisweilen greller Farbe.

Das in Berlin ansässige Künstlerkollektiv nimmt sich mit seiner Installation dreier Rahmendaten der jüngeren Geschichte an: 1979, 1989 und 2009. Was die emblematischen Stoffbahnen eher kryptisch andeuten, wird in den ausliegenden Zeitungen mit Texten zu den krisenhaften Ereignissen ausgeführt. Sie sind dem Wortsinne nach Wendepunkte der Geschichte: die iranische Revolution mit ihrer fundamentalen Weichenstellung für die geopolitischen Konflikte der folgenden Jahrzehnte im Nahen und Mittleren Osten, der Fall des Eisernen Vorhangs und die Finanzmarktkrise, die – so legen die Künstler nahe – sich im Nachhinein als ebenso einschneidender Wendepunkt wie der Fall der Mauer erweisen könnte. Apropos Wende und Raum: Olaf Holzapfels Reetskulptur reimbursement cell (2020) macht erlebbar, wie innenarchitektonische Linienführung Räume erschafft: Intuitiv folgt man der s-förmig geschwungenen Skulptur durch den Raum, hofft dabei auf einen Innenraum, eine Zelle zu treffen, und befindet sich schlussendlich doch nur auf der anderen Seite der Mauer. Ist das noch Skulptur oder schon Architektur? Erneut muss der Betrachter den Wunsch unterdrücken, die geschichteten Reethalme zu berühren, zu verheißungsvoll ist die Textur.

Wollte man nun ein übergreifendes Bild für diese Ausstellung finden, so wäre es wohl das wiederkehrende Element des Risses im Gewebe, unter dem eine neue Schicht hindurchscheint, am sinnfälligsten dargestellt in der Arbeit T-Serai (2019) von Azra Akšamija, in der sich recycelte Textilien in Wandteppiche verwandeln. Die Tradition des einen lauert unter der Oberfläche des anderen. Jede strenge Trennung ist und bleibt daher willkürlich.

Info

Kunst_Handwerk bis 04. Oktober 2020 in der Galerie für Zeitgenössische Kunst, Leipzig

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Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

Marlen Hobrack

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