DDR: IM, FKK

Ostfolklore In „Wir sind auch nur ein Volk“ bekommt der Westen die Klischees serviert, die er haben mag
Ausgabe 38/2018

Seit Pegida auf den Straßen Dresdens für bundesdeutsche Schlagzeilen sorgte, wurde der Ruf nach Reaktionen der gelähmt wirkenden Bürgerschaft laut. In Dresden konnte man in den letzten Jahren beobachten, dass ein Ort sich ganz besonders stark mit den Themen Fremdenhass und ostdeutschem Protest auseinandersetzte: das Theater. Das verwundert zunächst nicht, ist das Theater doch der Ort der Vergewisserung eines bürgerlichen Selbstverständnisses als Citoyen und immer dann besonders gefragt, wenn es offene Klüfte in Stadt oder gar im Land zu überwinden gilt. Zugleich läuft das Theater dabei Gefahr, mit der Nähe an Zeitgeschehen und Politik das genuin Künstlerische aus den Augen zu verlieren. Also etwas, das über den Moment hinausweist.

Zeitlose Stücke führen beides zusammen: Schillers Maria Stuart ist ein Stück über den historischen Moment des Sieges Elisabeths I. über ihre Konkurrentin Maria Stuart und ein zeitloses Stück über korrumpierende Macht und Moralität. Schiller wählte den Stoff in jenem historischen Moment, in dem die Französische Revolution in ein mörderisches Guillotinendrama umschlug. Maria Stuart wird hier nicht zufällig erwähnt. Es begegnet uns auf der Bühne des Dresdner Schauspielhauses an ganz unerwarteter Stelle: im Stück Wir sind auch nur ein Volk (Regie: Tom Kühnel, Dramaturgie: Kerstin Behrens) nach den gleichnamigen Drehbüchern Jurek Beckers. Ein Stück im Stück also, in dem Elisabeth I. in eine BRD-Fahne gehüllt über ihre Konkurrentin Maria, die DDR-Flagge trägt, triumphiert. Beide Damen zerfetzen einander die Fahnentracht schließlich wie Furien. Ganz so hatte man sich die schwesterliche (brüderliche?) Wiedervereinigung doch nicht vorgestellt.

Wir sind auch nur ein Volk ist in vielerlei Hinsicht ein ganz typisches Dresdner Stück der letzten Jahre: Es versucht sich an der Erklärung ostdeutscher Wut und der politischen Entfremdung zwischen Ost und West. Im Stück soll Erfolgsautor Steinheim Drehbücher für eine Einheitsserie schreiben. Sie soll eine echt-ostdeutsche Familie zeigen, den westlichen Brüdern und Schwestern das fremde Völkchen etwas näherbringen. Dumm nur, dass der Autor selbst gar nichts über Ostdeutsche weiß. Die Mauer habe eben nicht nur Ost- und Westdeutschland getrennt, sondern auch den Westen von der Mongolei, erklärt er seiner Frau. Mit anderen Worten: Die da drüben sind nicht nur ein bisschen fremd. Sie sind das absolut Fremde und als solches regelrecht unheimlich.

Kurzerhand sucht der Fernsehverantwortliche seinem Autor eine prototypische Ostfamilie: Familie Grimm aus Ostberlin. Vater Bruno arbeitslos, Mutter Trude, Lehrerin, unbelastet, wie sie betont, Großvater Karl Blauhorn, grillig-mürrisch, und Sohn Theo, der eventuell bald zum Taxifahrer umschulen muss, weil er ein „abgebrochener“ Student ist.

Bitterkeit und Wut

Auf der Bühne ist das Fernsehen stets anwesend: Das Geschehen wird gefilmt und auf eine Bühnenleinwand projiziert. Das Fernsehen, hier Video, zeigt einen Ausschnitt der Wirklichkeit, der durch ein längst vorgezeichnetes Skript bestimmt wird. Und Autor Steinheim sieht, was er sehen will: Weil er den Ausschnitt der Wirklichkeit bereits gewählt hat (woher weiß man eigentlich, dass die Grimms eine „typische“ Ostfamilie sind?). Zugleich beginnen die Grimms, ihrem Gast zu zeigen, was er gemäß ihrer Erwartung sehen will: FKK am Küchentisch. Schließlich wird sogar ein vermeintlicher Stasi-IM aus dem Hut gezaubert. Die Ostbürger spielen sich also nur. Und sie tun es für ein Westpublikum, das die ohnehin gehegten Klischees aus erster Hand bestätigt sieht.

Die Bühne kann sichtbar machen, was im Fernsehen notwendig verborgen bleibt. Diese Sichtbarmachung ist für den Diskurs entscheidend. Vergessen wir nicht, dass dem Theater in der DDR die wichtige Rolle zufiel, eine Gemeinschaft der Bürger gegen den Staat zu stiften, in einer Art genüsslichen Verschwörung. Was durfte auf der Bühne gesagt werden, welche Anspielungen entgingen dem Staat, nicht aber seinen Bürgern? Das war möglich, weil die Stücke mehr wussten als der Staat, weil sie zeigten, nicht sagten.

Heute dagegen ist der Wunsch des Theaters, Stellung zu beziehen, so groß, dass zu viel gesagt wird. Stücke wie Der Untertan oder Othello, die Themen wie Obrigkeitshörigkeit oder unüberwindbare Differenz und Rassismus thematisieren, werden fast zwanghaft explizit mit dem Zeitgeschehen verkoppelt – obgleich diese Bezüge ohnehin für jeden Theaterbesucher offensichtlich sind. Dem Othello wird ein Exkurs über Blackfacing auf der Bühne und Rassismus in der Gesellschaft vorangestellt. Auch im Untertan werden die Worte „Wir sind mehr“ im Mund geführt und damit Bezüge offengelegt. Es wirkt, als misstraue das Theater der Publikumsfähigkeit, Analogien zu bilden. So entwickelt sich kein andeutungsreiches Spiel zwischen Zuschauer und Theater, sondern allenfalls Didaktik.

Eine weitere Rolle, der sich das Dresdner Theater verschrieben hat, ist der Trost. Eine Form der zärtlichen Selbstvergewisserung, allerdings mit einer melancholischen, ja beinahe pessimistischen Note. In Wir sind auch nur ein Volk kommen Bitterkeit und Wut so stark zum Ausdruck wie in keinem der anderen Stücke der letzten Jahre. In vielerlei Hinsicht programmatisch sind Jurek Beckers Worte (auf der Bühne von den Schauspielern vorgetragen), er habe die Wende nicht herbeigesehnt, ihm sei kein Wunsch in Erfüllung gegangen. Wer genau hinhört, sieht die Freiheitsrhetorik des Westens als Chimäre entlarvt: Wenn die gewonnene Freiheit nur Freiheit ist, einen schönen Großbildfernseher zu kaufen, was ist sie dann wert? Der Westen war und ist verlogen, ist das als Erkenntnis getarnte Ressentiment.

Dementsprechend werden alle Negativtopoi bedient: Die BRD als Goldgräberstaat, der mittels Treuhand den Osten ausplündert. Die systematische Deindustrialisierung und die darauffolgende Verwunderung darüber, warum der Osten so partout nicht auf die Beine kommen will. Der Umgang mit ehemaligen IM, die moralisch härter abgeurteilt wurden als ehemalige NS-Verbrecher, von denen viele in der Nachkriegszeit Karriere machen durften. Das ist alles wahr, aber eben nicht die ganze Wahrheit. Diesen Teil muss sich das Publikum denken können.

Info

Wir sind auch nur ein Volk Regie: Tom Kühnel Staatsschauspiel Dresden

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Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

Marlen Hobrack

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