Der blinde Fleck im wohlwollenden Blick

Geschlechtersoziologie In Zeiten wie diesen empfiehlt sich ein Blick auf Pierre Bourdieus Klassiker „Die männliche Herrschaft“
Ausgabe 03/2016
Pierre Bourdieu betreibt kein Mansplaining
Pierre Bourdieu betreibt kein Mansplaining

Foto: Pierre Verdy/AFP/Getty Images

Im Grunde haben wir uns daran gewöhnt, dass alte Männer einem die Welt erklären. Im Fall von Pierre Bourdieu entbehrt dieser Umstand nicht einer gewissen Ironie. Schließlich haben sich feministische Analysen sehr ausführlich mit der männlichen Herrschaft auseinandergesetzt. In seiner 2005 – drei Jahre nach seinem Tod – auf Deutsch im Suhrkamp-Verlag erschienenen, immer noch lieferbaren Studie Die männliche Herrschaft lenkt Bourdieu den Blick auf die symbolische Herrschaft, die symbolische Ordnung der Dinge. Damit stellt er nicht in Abrede, dass es handfeste, auch gewaltvolle Unterdrückung gegenüber Frauen gibt. Sein Interesse aber gilt jener weitestgehend gewaltfrei gesicherten männlichen Herrschaft. Es sind die Strukturen und Institutionen, die diese Herrschaft sicherstellen und die sich letztlich in jedem Detail des Staatsaufbaus, der Ökonomie und Sprache – allesamt Teil der symbolischen Ordnung – niederschlagen. Bourdieu nennt als Beispiel die rechte und linke Hand des Staats: die rechte, also „harte“, ökonomische Seite und jene linke, die soziale Seite, mithin das nehmende (väterliche) und gebende (mütterliche) Element der Ordnung.

Und tatsächlich fallen Ressorts wie das Familienministerium noch immer in der Mehrheit Frauen zu, während die „harten“ Ressorts zumeist Männersache sind. Und schaffen es Frauen einmal, in die Führungsebene von Konzernen vorzudringen, dann zumeist nur, weil die männlichen Manager das sinkende Schiff (z. B. Yahoo) längst verlassen haben. Aber nicht nur Staatswesen und Ökonomie, auch Kirche und Schule haben über Jahrhunderte die männliche Herrschaft stabilisiert. Hierzulande fällt die Kirche als stabilisierender Faktor, wenn es sich nicht gerade um sehr konservative Milieus handelt, weitestgehend aus.

Umso wichtiger ist die Rolle der Schule. Mit ihrer Teilung in harte und weiche Fächer, Naturwissenschaften und Musisches, reproduziert sie noch immer Geschlechterrollen und „natürliche“ Verhaltensweisen. Entscheidend ist, dass Männer und Frauen dieser symbolischen Herrschaft unterliegen, dass also jeder einzelne reale Mann sich der symbolischen Ordnung des Männlichen unterwirft. Das Gleiche gilt für die Frau, mit dem Unterschied, dass sie sich innerhalb der männlichen Ordnung und dem Habitus, den sie erzeugt, als sein Negativ verstehen muss: als die Kehrseite im Spiel der dichotomen Weltordnung, in der sie das Weiche, Schwache und Soziale verkörpert. Der Mann benötigt sie zur Abgrenzung und konstituiert ihre „Weiblichkeit“ doch erst im Akt der Abgrenzung.

Bourdieu wendet sich gegen die Vorstellung des Geschlechts als beliebige Rolle, die man ablegen könnte. Zwar sieht er die Möglichkeiten des Spiels mit Geschlechteridentitäten. Aber er bezweifelt im Gegensatz zu Judith Butler dessen subversives Potenzial. Ebenso kritisch betrachtet er die an eine „magische“ Vorstellung grenzende Annahme, die symbolische Herrschaft des Mannes ließe sich durch Sprachregelungen abschaffen. Ein Seitenhieb auf Theoretikerinnen wie Luce Irigaray, deren Programm vor allem darin besteht, Frauen in die symbolische Ordnung der Sprache einzuschreiben.

Die psychoanalytisch orientierte Schule des Feminismus gründet wesentlich auf Jacques Lacans Vorstellung vom Symbolischen als „Gesetz des Vaters“ und dem Konzept des Phallogozentrismus. Dieses betrachtet die Sprache als Machtmittel, das die dualistische Einteilung der Geschlechter in männlich und weiblich gewährleistet und erzwingt. Demzufolge suchen sie die Überwindung des Phallogozentrismus in der Sprache. Zwar folgt Bourdieu dieser Vorstellung, er entdeckt aber im Werk Lacans und Sigmund Freuds eine Leerstelle: Beide übersehen den Einfluss der unbewusst wirksamen Ordnung auf ihre eigenen Theorien. Augenfällig wird es bei den Konstruktionen von Weiblichkeit im Freud’schen Werk, der Mythisierung der Frau als „dunklen Kontinent“ und sphinxgleiches Rätsel. Wenn also die Arbeiten Lacans und Freuds Ausdruck der männlichen Herrschaft sind, wie können sie dann zur Grundlage der Überwindung derselben werden? Pierre Bourdieu betreibt in diesem Sinne kein mansplaining (eine Wortschöpfung aus dem Englischen man und explaining) der männlichen Herrschaft für Frauen. Er korrigiert den blinden Fleck anderer Männer.

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Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

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