Ist es nicht bequem, in einer Welt zu leben, in der sich der Wert einer Frau an der Anzeige einer Waage ablesen lässt? Skaliert wird nicht nur der Körper, sondern das ganze Subjekt – und wehe derjenigen, die ein paar Pfund zu viel auf den Rippen hat. In Daniela Dröschers autofiktionalem Roman Lügen über meine Mutter, der es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat, wird der Körper einer Frau zum Schauplatz des Klassenkampfes unter patriarchalen Vorzeichen: Der Vater der Erzählerin Ela drängt die Mutter zum Abnehmen. Kein Tag, keine Stunde, keine Minute vergeht, in der das Gewicht der Frau nicht zum Gegenstand von Kritik wird.
Das hat Gründe. Der Mann kompensiert herkunftsbedingte Unterlegenheitsgefühle gegenüber seiner Frau durch Kritik an ihrer Körperlichkeit. Dieser Körper beansprucht Raum, zieht Blicke auf sich, allerdings nicht auf die gute Art. Am liebsten wäre ihm eine Frau, die von jedermann bewundert würde, ansonsten aber keinen Entfaltungsraum für sich beanspruchte.
Eine gutbürgerliche Frau hält Maß und Mitte, sie nimmt nicht unkontrolliert zu. Wenn der Ehemann, der partout nicht befördert wird, dem Gewicht der Frau Schuld an seinem Versagen gibt, dann wirkt das zunächst lächerlich. Aber verbirgt sich dahinter nicht doch eine Wahrheit? Sind wir es nicht gewohnt, dass erfolgreiche Männer attraktive Frauen haben? Und wer kann schon so genau sagen, was zuerst da ist: die normschöne Frau oder die Güte des Mannes, die es ihm ermöglicht, sich eine normschöne Frau zu angeln.
Dröscher lässt die Grenzen zwischen Fiktion und Biografie verschwimmen; nicht nur. Der Fokus liegt nicht auf einer literarischen Sprache, vielmehr geht es ihr um die Psychologie ihrer Figuren. Dröscher schaltet zwischen die erzählenden Passagen aus der Perspektive des heranwachsenden Mädchens Reflexionen der erwachsenen Autorin. Hier blickt eine Erwachsene noch einmal mit kindlichen Augen auf die Mutter. Natürlich findet sie ihre Mutter schön, beinahe glamourös; die Mutter fällt in der kargen Dorfgemeinschaft mit ihren bäuerlich-kleinbürgerlichen Strukturen auf, nicht nur durch ihr Gewicht. Sehr explizit reflektiert die Erzählerin die Möglichkeit, dass die Gewichtszunahme der Mutter das Ergebnis der Fremdheitserfahrung im Dorf ist. Nicht nur in Form von Frustessen, sondern im Sinne einer körperlichen Reaktion auf Isolation, die das Subjekt mit einer Schutzhülle umgibt: mit Gewicht, das Distanz schafft. Vor den Übergriffigkeiten, insbesondere der Schwiegermutter. Der fällt in diesem Kammerstück die Rolle der klassischen Tyrannin zu.
Man liest diesen Roman mit einer Mischung aus Schmunzeln und wachsender Wut. Alles könnte ziemlich komisch sein, wäre es nicht so grenzenlos unverschämt. Man weiß ja: Hier zerbricht eine Frau an der alltäglichen Kritik, die noch jede Hoffnung auf persönliche Entfaltung zerplatzen lässt. Gerade weil der Vater kein machtvoller Patriarch, sondern im eigentlichen Sinne ein Muttersöhnchen und weicher Mann ist, sind die Zurichtungen seiner Frau umso unerträglicher.
Mutterschaft als Falle
Fast scheint es, dass ihre körperliche Weichheit seine psychische Konstitution spiegelt – und ihm schon deshalb ein Dorn im Auge ist. Das Körperfett der Frau wird zur Verfügungsmasse, über die er kleine Machtgewinne vollziehen kann. Und man fragt sich, warum sich die Frau, die doch als stark und eigenwillig dargestellt wird, sich diesem Gewichtskontrollregime unterwirft. Dröscher liefert die Antwort gleich selbst: Die Mutterschaft ist eine Falle. Weil da ein Kind ist, kann sich die Mutter nicht von ihrem Ehemann lossagen. So muss das Kind mit einer Schuld leben, die es erkennt, ohne dass ihm die Mutter Vorwürfe machen würde. Und selbst wenn die Tochter die Schönheit und Körperlichkeit der Mutter verteidigt, bleibt sie doch stets auf dieses Gewicht bezogen. Die Mutter wird daher im doppelten Sinne zum gravitätischen Zentrum der Geschichte der Tochter: Sie ist das emotionale Zentrum der Romanerzählung, aber ihr Gewicht drängt auch permanent zur Reflexion. Es gibt keine Mutter außerhalb des gewichtigen Körpers.
Eines Tages wird die Mutter auf eine Abnehmkur geschickt. Ela findet währenddessen das Diätheftchen der Mutter, nimmt es an sich und nimmt ihrerseits ab. Allerdings führt ausgerechnet diese Identifikation der Tochter mit der Mutter zu einer Entzweiung: Da Mutter und Tochter gleichermaßen abgenommen haben, bleibt der Gewichtsabstand zwischen beiden bestehen. Der Körper der Mutter bleibt Versprechen und Drohung zugleich.
Dröschers Roman ist eine eindrückliche weibliche Alltags- und Sozialgeschichte. Kritiken haben den Vergleich mit Annie Ernaux, der frisch gekürten Literaturnobelpreisträgerin, nicht gescheut und Dröscher hat anlässlich der Auszeichnung an die französische Schriftstellerin diese als Vorbild genannt, so wie auch der Schriftsteller Christian Baron in dieser Zeitung (Seite 21). Schlägt also die Stunde der „Autosoziobiografie“, wie Ernaux ihre Art zu schreiben nennt? Hinsichtlich des diesjährigen Buchpreises darf man gespannt sein.
Lügen über meine Mutter Daniela Dröscher Kiepenheuer&Witsch 2022, 448 S., 24 €
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