Die Deutschen leben, um zu arbeiten

Coronakrise Job oder Familie – was kommt zuerst? Ist das wirklich ein nicht aufzulösendes Dilemma?
Ausgabe 01/2021
Es geht doch
Es geht doch

Foto: Imago/Westend61

Kurz vor Ende des vergangenen Jahres gab es in mir nur einen Gedanken: Himmel, werde ich froh sein, wenn dieses Jahr zu Ende geht! Die ersten zwei Wochen im Dezember hatte das Kleinkind mit Bronchitis und Mittelohrentzündung zu Hause verbracht, und auch die letzten zwei Wochen im Dezember blieb das Kind in häuslicher Betreuung. Wegen des vorgezogenen Sachsen-Lockdowns, der nötig wurde, weil die Sieben-Tage-Inzidenz im Freistaat explodierte. Keine Zeit für Kopfschütteln über die Leute, die noch immer nicht wahrhaben wollten, dass es im Freistaat ein Problem gab. Nicht nur mit belegten Intensivbetten, sondern auch mit quergeisternden Nichtdenkern.

Für uns musste es trotzdem weitergehen. Trotz durchwachter Nächte und stressiger Tage. Arbeiten wie immer, nur wieder ohne Kinderbetreuung. Der Mann und ich entwickelten einen gegenläufigen Arbeitsrhythmus. Er von morgens bis nachmittags, ich von nachmittags bis abends. Was aber nicht reichte, um meine Aufträge abzuarbeiten, und zudem hieß, dass für uns beide keinerlei Freizeit blieb. Wir fühlten uns überfordert. Wir stritten. Ich kam ihm mit Feminismus.

„Marlen, das ist keine abstrakte Gender-Debatte.“ Damit hatte er recht und unrecht zugleich. Recht, weil es um unsere konkrete Situation ging, in der wir aushandeln mussten, wie die Dinge gestaltet werden sollten. Die Tendenz aber blieb klar: Seine Arbeit war unverzichtbar, meine nicht. Und hier wurde es (geschlechter)politisch.

Im Rahmen der Krise und insbesondere des ersten Lockdowns wurde permanent eine Behauptung wiederholt, die ich mittlerweile für grundfalsch halte: Es wurde behauptet, Paare fielen in alle Rollenmuster zurück. Die Frau bleibe beim Kind, der Mann arbeite. Aber das ist höchstens die halbe Wahrheit. Das Dilemma der Frauen besteht gerade darin, dass sie nicht in alte Rollenmuster zurückfallen, nicht nur für die Familie zuständig, sondern weiterhin berufstätig sind. Obendrein kenne ich keinen Mann in meinem Alter, der sich vorstellen kann, allein für die Familie zu sorgen. Ein Patriarch alten Schlags will die Generation der Männer um die 30 gewiss nicht sein. Auch mein Mann nicht, den ich nur der Bequemlichkeit halber „meinen“ Mann nenne: Verheiratet sind wir nämlich nicht. „Partner“ klingt mir aber zu sperrig. In den scheinbar endlosen Debatten mit meinem Mann stellte sich rasch heraus, dass er speziell vor einem Angst hatte: seine Kollegen im Stich zu lassen. „Aber im Moment lässt du mich im Stich“, schimpfte ich. Warum gilt jemandes Loyalität den Arbeitskollegen, nicht der Partnerin? Offensichtlich, weil der Stellenwert der Arbeit so groß ist. Nicht nur im Scherz heißt es, die Deutschen würden leben, um zu arbeiten.

Ein nicht aufzulösendes Dilemma? Hinter der Angst vor dem Verrat an den Kollegen stand die wohl noch größere Angst, sich entbehrlich zu machen: In einem Büro, in dem Teammitglieder auch mit schwerer Krankheit auf Arbeit erscheinen, weil sie Einsatz zeigen wollen, war der Vater im einjährigen „Babyurlaub“, wie es eine Kollegin nannte, sowieso suspekt. Als eine jüngere Kollegin überraschend schwanger wurde, kurz nach der Einstellung, sparten die Kollegen nicht mit bissigen Kommentaren. Ja, wie kann es auch sein, dass Menschen ihrer Arbeit einen Rang hinter ihrem Privatleben zuerkennen?

Ich verstand das Dilemma meines Mannes. Und vielleicht versteht er nun das Dilemma der Frauen, die ihre Arbeitszeit in den vergangenen Monaten reduzierten oder auf Arbeit nicht so flexibel und einsatzbereit waren wie gewohnt – und nun fürchten, dass man sie zukünftig für entbehrlich hält. Nein, das ist wirklich keine abstrakte Gender-Debatte.

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Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

Marlen Hobrack

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