Die letzte Buchleserin

Medien Das Buch ist tot? Won wegen! Es lebt und atmet und erweist sich als der perfekte Bettgefährte. Über die erotische Bindung zum Buch

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Nicht nur das Ende des Buches ist ein Topos. Auch das Ende vom Ende des Buches, seine Wiedergeburt also, hat sich topisch verfestigt. Natürlich konnte nie vom Ende des Buches die Rede sein; nicht einmal vom Ende des gedruckten Buches. EBooks sind praktisch. Aber was praktisch ist, das liebt man nicht. Man kann das gedruckte Buch für vieles lieben; am meisten aber muss man es für den Hauch von Geist, den es in uns eindringen lässt, lieben. Und der Geist kommt über den Lesenden, wie das Kind zur Jungfrau: Entfaltet das Buch erst einmal seine Seiten, wie der Heilige Geist seine Flügel als Täubchen spreizt, dann ist kein Verstand mehr sicher. Das gab den Intellektuellen schon früh zu denken.

Kaum hatte die Alphabetisierung eine kritische Masse von Lesenden erzeugt, verbreitete sich ein Unbehagen gegen die Viellesenden, vor allem die viellesenden Frauen. Noch bevor es Diätbücher mit Anleitung zur Verschlankung der Taille gab, kreierte das 18. Jahrhundert eine Diätetik des Geistes. Vor allem Frauen wurde der Genuss von Büchern nur in kleinen Dosen empfohlen. Denn: Die Dosis macht das Gift.

Lesende Frauen neigen bekanntermaßen zur Vernachlässigung ihrer Pflichten. So etwas musste schon im Ansatz unterbunden werden. Zugleich erzeugte die Forderung nach lesender Zurückhaltung und zurückgehaltenem Lesen einen bürgerlichen Nebenwiderspruch: Denn der Lesende war und ist zumeist weiblich, also eine Lesende; bis heute lesen Frauen mehr, intensiver, häufiger als Männer. Sie ist also Konsumentin der bürgerlichen Buchproduktion, sie ist Käuferin, er freilich viel zu oft der Produzent. Das hat er sich fein ausgedacht: Die Frauen mit imaginären Welten zu verführen und sie dann, im gleich angeschlossenen Herrendiskurs, sogleich für ihre Lesesucht zu diskreditieren. Ihrer als Konsumentin zu bedürfen und Bücher, scheinbar, nach ihren Bedürfnissen zu produzieren, und sie dann für ihren schlechten Geschmack zu kritisieren.

Die eigentlichen Opfer aber sind nicht die Frauen. Die eigentlichen Opfer sind, wie immer, die Männer. Denn nur folgerichtig wirkt ein Mann aus Fleisch und Blut, verglichen mit den romantischen Helden zwischen den Buchseiten, nun ja, etwas papiern. Ein Trost aber bleibt dem Mann: In Wirklichkeit wäre ja kein Leben zu machen mit den erotischen Don Juans; in Wirklichkeit brauchen wir dröge Herren wie Charles Bovary. Etwas Nüchternheit tut, bei aller Buchliebe, doch gut.

Denn Lesen verdirbt den Realitätssinn. Lesen deformiert die Erwartungen an die Wirklichkeit. Dass das Imaginäre immer den Sieg gegen das Reale davonträgt, dürfte ganz klar sein. Erotische Verirrungen bleiben da nicht aus. Denn wo frau viele Stunden mit den Büchern im Bett oder auf der Chaise Longue zubringt, darf es nicht wunder nehmen, dass sie am Ende seitenweise seinen Liebreizen verfällt.

Das Buch als imaginäres Double des Liebhabers, mit all den Qualitäten eines guten Mannes: Außen hart, innen weich, gut duftend, mit einer Kopfnote von Holz und einer Herznote von Leim. Wenn nicht gerade ein Mann an meiner Seite in meinem Bett liegt, dann belegt ein Stapel Bücher den freigewordenen Platz. Das ist nur halb so unbequem wie es klingt. Und im Bett hat noch kein Buch versagt.

Das geliebte Buch

Die Erotik des Buches. Beim Gang durch die Buchhandlungen ertappe ich mich dabei, wie ich fremden Büchern zärtlich den Rücken streichle. Bei einem Mann grenzte das schon an sexuelle Belästigung. Ein Buch aber toleriert Zudringlichkeit. Es will sich ja öffnen.

Was aber, wenn die Zeit des Buches tatsächlich zu Ende geht? Sollte es ein letztes Buch geben, so wäre der letzte Leser statistisch betrachtet mit höchster Wahrscheinlichkeit eine Frau. Eine letzte Buchleserin also. In Michael Angeles Buch „Der letzte Zeitungsleser“ geht es um die Kulturtechnik des Zeitunglesens. Man kann das am Frühstückstisch machen, macht es aber besser noch in einem Straßencafé. Hier dient die Zeitung als Schirm gegen den Fremden. Um der Tyrannei der Intimität nur ja keinen, aber auch gar keinen Ansatzpunkt zu bieten, versteckt sich der Zeitungsleser hinter dem großformatigen Papier, macht aber zugleich ein Statement gegenüber der Öffentlichkeit, von der er sich doch abschirmt. Die Dialektik des Zeitungslesens: Die Zeitung als Abfangjäger für Passanten, als Schutzschild gegen zudringliche Blicke, der aber zugleich die eigene Zudringlichkeit erlaubt – man kann ja jederzeit über den Zeitungsrand gucken.

Das Buch funktioniert hier nicht halb so gut, weil es, im Gegensatz zu der flächenmäßig viel größeren Zeitung, den Lesenden dahinter sichtbar lässt. Keine Chance, irgendwelche Gesichtsregungen hinter dem Buchrücken zu verbergen. Überhaupt gibt ja das gewählte Buch selbst schon allzu viel über den Lesenden preis. Buchlesen also anonymisiert nicht den Lesenden; es offenbart sein Innerstes.

Gerade die Kanonliteratur, wahlweise alphabetisch oder nach Epochen sortiert, weist den Buchregalbesitzer als Angehören des Bildungsbürgertums aus. Oder täte das, gäb’s denn noch eins. Sortiert der Buchlesende seine Bücher jedoch farbig, wie es einschlägige Schöner-Wohnen-Magazine ihren zumeist weiblichen Lesern empfehlen, darf man getrost davon ausgehen, dass das Buch nur ein hübsches Accessoire ist. Denn eine Handbibliothek, die farblich zusammenbindet, was durch Epochen, alphabetische Zwischenbuchstaben und Stile getrennt ist, verfehlt ihren Zweck als benutzbarer Wissensspeicher (Ausnahmen gelten hier nur für die Reclam-Bibliothek). Was der Buchhändler geteilt hat, soll der Mensch nicht zusammenfügen.

Ein geliebtes Buch übrigens muss benutzt aussehen. Es muss die Spuren des Lesers tragen. Er muss sich dem Text einschreiben, sich ihm aufdrängen und ganz intim mit ihm werden. Jede Zeile kennenlernen. Jedes Wort, jeden Buchstaben. Wie der Haut des Geliebten muss man sich der Buchseite nähern, immer bereit, sich ihr einzuschreiben, so wie man Kratzspuren auf des Liebhabers Rücken hinterlässt. Nie aber sollte Alkohol den Weg der Buchseiten kreuzen, ein Frevler, der mehr Rausch benötigt, als es der betörende Duft des Buches bietet.

Nein, ich lese keine eBooks. Wer einen eBook-Reader kauft, hintergeht auch seinen Liebhaber. Immer mehr, immer mehr; eBook-Reader befriedigen doch nur die Lust am Buchrausch, der ohne Konsequenzen bleibt, weil sich zu Hause keine Berge von Büchern stapeln und sie, verborgen in den Schichten digitaler Tiefe, kaum auffallen. So kann man eine ganze Reihe von Liebhabern managen. Ich aber bin eine treue Seele.

Obwohl, neulich verkaufte ich einen ganzen Schwung Bücher. Sorgfältig in Kisten verpackt übergab ich sie professionellen Buchhändlern. Was bei Freunden und Verwandten Besorgnis erzeugte: Bist du krank? Musst du umziehen? Soll ich die Bücher bei mir einlagern, falls du es dir noch einmal anders überlegst? Sich von seinen Büchern zu trennen ist kaum weniger schlimm, als ein Kind wegzugeben, so scheint es. Dabei wurden doch nur die ungelesenen, ungeliebten Bücher zur Adoption freigegeben. Die freigewordenen Plätze in den Regalen aber wurden sogleich mit neuen Büchern gefüllt. Denn die Lust an den Büchern vergeht nie.

Dieser Text erschien zuerst auf textur.de

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Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

Marlen Hobrack

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