Die Geschichtswissenschaft hat ein Umdenken vom Singular zum Plural vollzogen. Anstelle der einen großen Geschichte oder der Lebensereignisse großer Männer werden viele kleine Geschichten erzählt. Die Autorin Yaa Gyasi, die in Ghana geboren wurde und in Alabama aufwuchs, hat mit Heimkehren eine zwei Jahrhunderte umspannende Familiengeschichte geschrieben, die zugleich die Geschichte von Hunderttausenden afrikanischen Sklaven und ihren Nachfahren ist. Nicht in den Details, sondern in dem Gefühl, das sie teilen: dem der Entwurzelung.
Heimkehren. Nur, wo ist Heimat? Der englische Originaltitel übrigens lautet Homegoing. Das ist nicht ganz dasselbe wie Heimkehren. Der Heimkehrende geht zurück. „Homegoing“ richtet sich auf eine Zukunft. Vielleicht wird die Heimat erst im Prozess des Suchens erzeugt.
Dieses Buch ist ein literarisches Ereignis, und das, obwohl es seine Schwächen nicht immer verbergen kann. Dass eine Autorin mit gerade einmal 26 Jahren ein literarisches Werk, an dem sie insgesamt sieben Jahre lang arbeitete, vorlegt, ist verblüffend genug. Dass die Mühen mit Stoff und Erzählen hinter dem fertigen Text zumeist verschwinden, ist beeindruckend. Seinen Anfang nimmt der Roman mit den beiden Halbschwestern Effia und Esi an der ghanaischen Goldküste. Effia wird die Frau eines weißen Sklavenhändlers, Esi dagegen wird in die Sklaverei verkauft. Der Roman ist im Grunde eine Sammlung in sich abgeschlossener Erzählungen, die, verbunden nur durch die generationelle Reihung, jeweils die Geschichte einer der Nachkommen Effias und Esis erzählen.
Bisweilen passiert es, dass man beim Lesen durcheinandergerät und nicht mehr ganz sicher ist, auf welcher Seite des Familienstammbaumes man sich gerade befindet. Keiner der Charaktere wird lange eingeführt; Gyasi springt von Erzählung zu Erzählung. Das aber ist keineswegs eine Schwäche des Textes. Die Autorin erzeugt ein lockeres Textgewebe und betont die Brüche, die sich in jeder Generation von Neuem ereignen. Ihre Charaktere sind allesamt Entwurzelte.
So spielt fast jedes Kapitel an einem anderen Ort und die Handelnden tun vor allem eins: Sie ziehen umher. Und der Leser folgt ihnen und der Geschichte von einer Sklavenfarm zur nächsten, vom Hafen Baltimores bis zu den Jazzclubs in Harlem. Man könnte dem Text vorwerfen, dass die Einzelschicksale doch ein wenig zu sehr Sozialgeschichte widerspiegeln, dass die Charaktere also eher sozialen Typen entsprechen, denen es an eigener Motivation und Psychologie fehlt.
He ain’t helped us last time
Nur war das erstens schon immer ein Problem des figurenreichen realistischen Romans – man denke hier nur einmal an den großen Fontane und seine Frau Jenny Treibel – und ist zweitens eine direkte Konsequenz der Konstruktion des Romans als Reigen von Episoden. Zugleich offenbaren die zahlreichen Charaktere eine absolute Stärke Gyasis: die Fähigkeit, jedem eine eigene Stimme zu geben. Der Text lebt von den Idiomen und Soziolekten seiner Charaktere, die in der deutschen Übersetzung leider verloren gehen. Besonders das Pidgin-Englisch der Farmsklaven („Doctor ain’t helped us last time“) lässt sich nicht übersetzen.
So muss der Leser, der diesen Roman auf Deutsch liest, leider einen Verlust auf sprachlicher Ebene in Kauf nehmen. Das kann man der Autorin natürlich nicht anlasten. Etwas anderes schon. Gyasi schrammt einige Male hart an der Grenze zum Kitsch entlang, und zwar immer dann, wenn die zwei zentralen Dingsymbole im Text – die Steine, die die beiden Schwestern als Kinder erhalten, und das Feuer, aus dem Effia „geboren“ wurde – auftauchen. Das damit verbundene magische Denken und der Aberglaube der Goldküste überleben auf dem amerikanischen Kontinent. Vor allem, weil die Mythen, Märchen und Geschichten von den (Zieh-)Müttern an die Kinder weitergegeben werden. Zugleich fügen sie den alten Mythen ihre eigenen Geschichten hinzu.
Gyasis Roman ist fiktive Oral History der Menschen, die ihre Geschichten nicht erzählen durften. Und zwar deshalb, weil man sie nicht als Menschen, sondern als Ware betrachtete. So gehören zu den stärksten Stellen des Romans jene Passagen, die von den Baumwollpflückern der Südstaaten erzählen. Verblüffend ist zudem, wie es Gyasi gelingt, das System der Sklaverei in seinen bizarren Mechanismen darzustellen: Wie die konkurrierenden und einander bekriegenden Stämme der Fante und Aschanti ihre Kriegsgefangenen an die europäischen Sklavenhändler verkaufen und damit ein mörderisches System füttern, das beiden zum Verhängnis wird. Die Stämme kooperieren so lange mit den Weißen, bis offensichtlich wird, dass jeder verkaufte Sklave des Nachbarstammes den Hunger nach neuen Sklaven nährt. Bald schon werden Kinder entführt und in die Hände der Weißen übergeben.
Man könnte dem Text anlasten, dass er die Geschichte von Brüchen und Trennungen schlussendlich allzu wohlfeil und harmonisch auflöst. Nur spricht daraus eben eine Sehnsucht, eine, die viel mehr ist als die persönliche Sehnsucht einer Autorin. Denn die Kluft zwischen Schwarzen und Weißen in der amerikanischen Gesellschaft ist nach wie vor groß. Und wie sehr die Rassentrennung nachwirkt, zeigt sich dieser Tage deutlicher denn je. Auch in der großen Geschichte, jener der großen Männer, namentlich der von Barack Obama, gab es Momente der Versöhnung. Nur folgte auf Obama eben Donald Trump, der bekanntlich erst nach massivem öffentlichem Druck die rassistischen Proteste von Charlottesville verurteilte.
Wenn Zadie Smith über dieses Buch sagt, es sei eine „heilende Lektüre“, dann insofern, als darin Sehnsüchte formuliert werden und die Möglichkeit eines Happy Ends aufleuchtet. Eines, in dem die Wunden der Geschichte am Ende doch noch geheilt werden können, indem das, was getrennt wurde, wieder zusammengefügt wird. Es ist bezeichnend, dass das im Text nicht in den Vereinigten Staaten geschieht.
Info
Heimkehren Yaa Gyasi Anette Grube (Übers.), Dumont 2017, 416 S., 22 €
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