Ungefähr zehn muss ich gewesen sein, als ich ein seltsames Gespräch zweier Frauen im Bus verfolgte. Diese „Mischlingskinder“, sagte die eine mit Blick auf ein kleines Mädchen mit Afrohaar, das gerade den Bus verließ, seien ja alle sehr süß. Aber als Elternteil müsse man sich schon genau überlegen, ob man das seinem Kind antun wolle. Diese ganze Hänselei und so. Die zweite Frau nickte zustimmend. Selbst das Kind in mir verstand, dass hier etwas gehörig falschlief. Dass es nicht die Eltern des Kindes waren, die ihm etwas zumuteten, sondern die rassistische Mehrheitsgesellschaft. Sicher empfanden sich die beiden Frauen nicht als rassistisch. Trotzdem ist das Gespräch ein Beispiel für die Verdrängung von alltäglichem Rassismus durch Weiße, der nicht da beginnt, wo jemand mit dem N-Wort beschimpft wird oder gar tätlich angegriffen wird.
Viele verdrehen die Augen
Die Journalistin Alice Hasters hat ein Buch darüber geschrieben. Es heißt Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen: aber wissen sollten. Hasters hat eine afroamerikanische Mutter und einen weißen Vater, sie wächst in Köln-Nippes auf. Seit sie ein Kind war, begegnen ihr die immer gleichen Fragen zu ihrer „Herkunft“. Dass sie Deutsche ist, reicht den Fragenden nicht. Wo kommt sie denn nun wirklich her? Sie weiß, was die Menschen hören wollen, deswegen geht sie irgendwann dazu über, sich als „halb schwarz, halb deutsch“ zu bezeichnen. Schwarzsein und Deutschsein schließen einander nicht aus – eigentlich. Die Fragenden sehen das meist anders.
Hasters geht von ihren biografischen Erfahrungen aus, um zahlreiche Formen des Rassismus zu entlarven. Er beginnt da, wo man sich über ihr gutes Deutsch wundert, sie bei Schauspiel-Castings im Jugendalter nur für die Rolle der Ausländerin besetzen will. Er endet nicht da, wo man ihr ungefragt in das Haar greift, weil es so schön lockig ist. Alltäglicher Rassismus ist die Summe vieler kleiner Nadelstiche. Es sind die kleinen Gesten und Worte, die ihr Anderssein markieren. Dieses „Othering“, wie es heute oft genannt wird, begegnet Alice Hasters alltäglich. Der Maßstab für das, was normal und gut ist, ist der weiße Körper.
Hasters denkt auch über identitätspolitische Begriffe und Konzepte nach, bei denen so mancher Weißer mit den Augen rollt. Besonders da, wo es um lieb gewonnene Traditionen geht: „Blackfacing“ im Theater und beim Karneval, kulturelle Aneignung in Fragen von Frisur und musikalischen Genres. Der ein oder andere wird sich eventuell fragen: „Puh, ist sie da nicht hypersensibel? Müssen wir politisch so überkorrekt sein?“
Im Gegensatz zum deutschen Antisemitismus, der politisch und historisch immerhin aufgearbeitet wird (ohne dass er deshalb einfach verschwindet), sind Rassismus und Kolonialismus noch oft Tabuthemen. Das zeigt der Umgang mit der Verantwortung für den Völkermord an Herero und Nama in den ehemaligen deutschen Kolonien. Oder die Wortschöpfung „Nafri“, Polizeijargon für nordafrikanische Intensivtäter, der in den Alltagssprachgebrauch überging.
Hasters’ Text ist eine deutliche Referenz an das Buch der englischen Autorin Reni Eddo-Lodge Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche, das in diesem Frühjahr im Tropen Verlag auf Deutsch erschien. Auf dem Schutzumschlag dieses Buches sind die Worte „mit Weißen“ in weißer Schrift auf weißem Grund gedruckt. Man könnte also zunächst lesen: „Warum ich nicht länger über Hautfarbe spreche.“ Die Weißen werden unsichtbar gemacht, bilden aber zugleich den eigentlichen Referenzrahmen des Satzes. Das ist mehr als nur ein netter grafischer Trick. Er verweist auf den Kern, aber auch das Kerndilemma, das beide Bücher betrifft: Ihr Inhalt macht deutlich, dass Weiße zwar Adressaten der Botschaft sind, aber nicht ganz klar ist, ob sie diese auch verstehen können.
Hasters schreibt zu Beginn ihres Buches: „Ich will transparent machen, dass meine Welt oft anders aussieht als die von weißen Menschen.“ Sie konstruiert damit zwei völlig distinkte Erfahrungsräume und begibt sich so auf das Feld, das sie doch kritisiert: Wie kann Verständigung gelingen, wenn unsere Welten so anders aussehen? Das Problem lässt sich mit der Theorie der „trilemmatischen Inklusion“ von Mai-Anh Boger, die zuletzt an der Universität Paderborn Pädagogik lehrte, beschreiben. Inklusion lässt sich demnach als Verbindung von zwei von drei Faktoren beschreiben: Empowerment, Normalisierung und Dekonstruktion. Die Verbindung zweier Elemente schließt das dritte aber notwendig aus.
Ein Beispiel: Im Rahmen der Identitätspolitik bildet „Empowerment“ eine zentrale Kategorie. Sie steht für Selbstermächtigung, allerdings basiert diese auf der Zuschreibung von Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe – beispielsweise der Gruppe schwarzer Frauen. Diese Gruppe kann nun zu einer Forderung von Normalisierung übergehen: „Hört auf, unsere Körper zu sexualisieren!“ Die Verbindung der beiden Eckpunkte Empowerment und Normalisierung aber schließt die Dekonstruktion aus.
Das Empowerment als Schwarze und die Forderung nach Normalisierung des Schwarzseins macht es notwendig, die Kategorie „schwarze Frau“ aufrechtzuerhalten. Der Verweis auf die Erfahrungen des Schwarzseins, die sich fundamental von den Erfahrungen weißer Frauen unterscheiden, verhindert die Infragestellung der Kategorie. Wenn die Gruppe „schwarze Frau“ aber so distinkt abgegrenzt ist, wie kann sie dann je als „normal“ erscheinen? Mai-Anh Boger geht es gerade nicht darum, die identitätspolitischen Ansätze zu delegitimieren. Vielmehr muss das Trilemma immer mitgedacht werden, wenn man über Diskriminierung und Identität spricht. Die Bücher von Alice Hasters und Reni Eddo-Lodge fordern Weiße auf, sich in die Haut der anderen einzufühlen. Deren Andersartigkeit wird dadurch nicht nur zementiert; das Leid dieser anderen erscheint auch erst dann real, wenn es von den Weißen anerkannt wird. Die Forderung der Anerkennung der Diskriminierung durch Weiße verdeckt jedoch, dass Rassismus evident und alltäglich ist, ob die Weißen selbst ihn nun anerkennen oder nicht.
Info
Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen: aber wissen sollten Alice Hasters hanserblau 2019, 208 S., 17 €
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