Eingesperrt

Tagebuch Fang Fangs „Wuhan Diary“ handelt genauso vom Virus wie von Willkür und Zensur
Ausgabe 29/2020
Die chinesische Schriftstellerin Fang Fang
Die chinesische Schriftstellerin Fang Fang

Foto: STR/AFP/Getty Images

Wie fühlt es sich an, wenn Millionen zu Hause bleiben müssen, während sich die Welt weiterdreht? Fang Fang dokumentierte die alltägliche Angst in einer abgeriegelten Stadt im Netz, berichtete hautnah von der Verzweiflung unter den Menschen und eigenen Befürchtungen, von Kranken und Verstorbenen. Und sie prangerte die Lokalregierung und die staatliche Geheimhaltungspolitik an. Über 50 Millionen lasen mit – sofern die Blogbeiträge nicht gelöscht wurden. Mehr als vom Virus erzählt das Tagebuch, das jetzt gedruckt vorliegt, von einem Zensur übenden, Meinungsfreiheit unterdrückenden Staat.

Der erste Eintrag datiert auf den 25. Januar, zwei Tage nach dem Lockdown in Wuhan. Hier lebt sie seit ihrem zweiten Lebensjahr. Wuhans Schicksal ist ihr Schicksal. „Die Ursache meiner Liebe zur Stadt ist meine Vertrautheit. Unter allen Städten der Welt fände ich mich nur hier zurecht. So als kämen mir Massen von Menschen entgegen, und unter den unzähligen fremden Gesichtern würde mir ein einziges vertrautes entgegenlachen: das Gesicht Wuhans“, so schrieb Fang Fang einmal.

Zwei Monate, gut 60 Einträge, von denen viele mit der Beschreibung des Wetters beginnen: Kälte, Wind, Regen sind ein schlechtes Omen, weil sie die Abwehrkräfte schwächen, vielleicht die Epidemie befeuern. Durchhalteparolen und Ermunterungen von Mitbürgern finden ihren Weg ins Tagebuch. Fang Fang wird ihrer Rolle als „Volksschriftstellerin“ gerecht. Sätze, nicht selten schwer von Pathos.

Fang Fang wurde 1955 geboren. Nach dem Ende der Kulturrevolution studierte sie Literatur an der Wuhan-Universität. Ihr erster Roman erschien 1982, da arbeitete sie bereits als Drehbuchautorin für Fernsehserien. Ihr Wuhan Diary erschien zunächst in den sozialen Netzwerken, wo die Einträge regelmäßig wie von unsichtbarer Hand verschwanden. Fang Fang berichtete dann in den Folgeeinträgen von der Zensur. Zum Glück wurden die Beiträge geteilt und kommentiert; das Netz ist schneller als seine Zensoren. Die hatten allen Grund, sich der Beiträge anzunehmen: Unentwegt kritisierte Fang Fang die Regierung, konkret die Kader der Regionalregierung. Die Staatsregierung wird interessanterweise nicht einmal erwähnt. Ein chinesisches Äquivalent zu „Merkel muss weg“ scheint nicht denkbar. Dafür bemerkenswerte Absätze wie dieser: „Liebe Netzzensoren, gewisse Dinge auszusprechen, müsst ihr den Wuhanern gestatten. Das schafft ihnen etwas Erleichterung.“ Fast wirkt es, als habe sich die Autorin mit den Zensoren arrangiert. Freilich ändert sich die Qualität von Zensur, wenn sie allen bewusst ist.

Lobe die Laubfeger!

Fang Fang berichtet von einer Willkür, die erst vertuscht und dann unverhältnismäßig hart durchgreift: Ein Vater etwa wird in fünftägiger Quarantäne gehalten, während sein geistig behindertes Kind allein im Haus zurückbleibt. Und stirbt.

Vieles ist zunächst Hörensagen, erreicht Fang Fang als Video im Netz oder Erzählungen von Freunden. Sehr deutlich wird, dass angesichts der Informationspolitik des Staates – vor allem Erfolgsmeldungen! – informelle Netzwerke unerlässlich sind. Fang Fangs Brüder etwa, die an der Universität lehren, versorgen sie mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Virus. Solche Informationsnetzwerke erfüllen einen weiteren Zweck: Als sie mitteilt, dass sie keine Masken besitzt und ihr die lebenswichtigen Diabetesmedikamente ausgehen, versorgen Leser Fang Fang mit Masken und bieten ihr an, für sie ins Krankenhaus zu gehen. Das Lob der Autorin gilt dann auch den unermüdlich tätigen Bürgern, ihrem Durchhaltewillen und Gemeinschaftssinn.

Das vielleicht interessanteste Lob bekommen die Straßenfeger. „Es gibt zwar kaum Passanten und keinen Müll am Straßenrand, nur ein paar herabgefallene Blätter. Aber sie sind extrem pflichtbewusst, fegen gewissenhaft die Straßen und halten die gesamte Stadt sauber.“ Es gibt kaum ein bizarreres Bild einer Millionenstadt im erzwungenen Dornröschenschlaf. Doch das Leben geht ja weiter. Wenn Dornröschen erwacht, möchte sie sicher nicht auf feuchtem Laub ausrutschen.

Info

Wuhan Diary: Tagebuch aus einer gesperrten Stadt Fang Fang Michael Kahn-Ackermann (Übers.), Hoffmann und Campe 2020, 352 S., 25 €

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

Marlen Hobrack

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