Es lebe der Buchclub!

Social Reading Buchclubs und Online-Lesegemeinschaften wie Emma Watsons "Our shared Shelf" erfreuen sich großer Beliebtheit. Was können sie, was klassische Literaturkritik nicht kann?

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Nie wieder alleine vorm Bücherregal: Bücherclubs erleben eine Renaissance
Nie wieder alleine vorm Bücherregal: Bücherclubs erleben eine Renaissance

Bild: Ernesto Benavides/AFP/Getty Images

Vielleicht erinnern Sie sich noch an den Bertelsmann-Club, der einst Lesern zum „Vorzugspreis“ literarische „Bestseller“, von denen man in den meisten Fällen nie etwas gehört hatte, feilbot. Weil meine Mutter, arme naive Ex-DDR-Frau, in den 90ern einfach alles unterschrieb, was man ihr unter die Nase hielt, wurde sie eben auch Buchclubmitglied, freilich ohne eine passionierte Leserin zu sein. Wenn sie sich nicht monatlich selbst einen Titel aus dem „breiten Programm“ sicherte (was sie nie tat), erhielt sie quasi zwangsweise einen zugeteilt. Erste Lektion in Sachen Kapitalismus! Unsterbliche literarische Klassiker mit Titeln wie „Haifischfrauen“ oder "Die Liebenden von Leningrad" zieren noch heute das Bücherregal meiner Mutter. Völlig zurecht ging diese Form des Buchclubs, gemeinsam mit Techno und Bauchnabelpiercings, mit dem Ende der 90er unter.

Heutzutage erfreut sich dagegen eine neue, eigentlich sehr alte Form des Buchclubs als Gemeinschaft Lesender, die sich über ein ausgewähltes Buch austauscht, erstaunlicher Beliebtheit. Das zeigt sich schön an dem durch Schauspielerin Emma Watson gegründeten Buchclub „Our Shared Shelf“. Dieses geteilte Bücherregal findet sich übrigens auf der Plattform Goodreads von Amazon. Bevor Sie nun über den Konzernriesen Amazon schimpfen (nur zu, machen Sie ruhig), der natürlich ordentlich an dem Buchclub, dem inzwischen über 100,000 Mitglieder angehören, mitverdient, sollten wir doch kurz über dieses erstaunliche Phänomen nachdenken, das naturgemäß einen netztauglichen Namen trägt: Social Reading.

Lesen als soziales Ereignis

Auf ins Feld!, dachte ich mir also, und besuchte einen liebenswerten Buchclub in meiner Stadt. Dass ich an einer Sache dran war, merkte ich schnell, denn zusätzlich zu den sieben Stammdiskutanten fand sich neben mir eine weitere Journalistin, die prompt fragte, ob sie über den Club berichten dürfe. Auf keinen Fall!, sagte die Gastgeberin, mehr als acht oder neun Leute vertrage so ein Club nicht. Ein Arkanum der Literatur, wie es schöner nicht auszudenken ist; wir tranken Wein, aßen Chips und diskutierten Han Kangs „Die Vegetarierin“. Und hier schon ergibt sich für den Buchclub-Unbedarften die erste Überraschung: So ein Buchclub, ob privat oder halböffentlich, widmet sich keineswegs banaler Unterhaltungsliteratur. Die Leseliste der Damen (und manchmal auch Herren) des Clubs umfasst englischsprachige Klassiker wie Mary Shelley und Oscar Wilde neben preisgekrönten Literaturstars wie Donna Tartt und Hilary Mantel.

Diese Ehrenrettung muss sein, denn erst neulich versuchte sich die F.A.Z. an einer Analyse des Phänomens Laienbuchrezension am Beispiel der LovelyBooks-Plattform. Mit kaum verhohlenem Erstaunen berichtet der Autor Oliver Jungen darüber, dass die Leser vor allem Geschmacksurteile fällten. Der Titel des Textes lautet dann auch: „Die wahren Vorlieben der Leserschaft“ Das klingt ein wenig wie „Was wirklich in deutschen Schlafzimmern geschieht“. In jedem Fall wohl etwas Unanständiges. Jedenfalls strotzt der Text nur so vor noblem Naserümpfen über die Lächerlichkeiten und Abgründe der Lesegemeinschaft: „Die Inhalts- und Geschmacksfixierung markiert den Hauptunterschied zur etablierten Literaturkritik […].“ Der Leser will lesen, was ihm gefällt. Da staunt die etablierte Literaturkritik.

Nun schreibe ich auch regelmäßig Rezensionen, auch für den Freitag. Als „professionelle Leserin“ muss ich gestehen: Das meiste, was den Feuilletons gefällt (und meist sehr männlich und mittelalt und etwas kahl am Hinterkopf ist), finde ich furchtbar langweilig. Das ist ein Geschmacksurteil, ja. Gerhard Falkners „Apollokalypse“ ist so ein Beispiel. Die Welt sprach von einer „epischen Entladung eines Lyrikers“ (finden Sie den Fehler!). Ich fand ihn furchtbar furchtbar [sic!] und könnte das sogar begründen. Nur darf man das als Kritiker über den Text eines ernstzunehmenden, also nicht unterhaltungswilligen Autors nicht sagen.

Abgehobene Literaturkritik?

Jedenfalls wirft so ein Beispiel eine Frage auf: Für wen kritisiert der Kritiker? Für andere Kritiker, vor denen er sich als form- und entladungsaffin beweisen kann? Oder für den Leser? Und sollen wir „Germanisten-Pornos“ (wie es neulich ein Facebook-Freund mit Blick auf eine Rezension von Iris Radisch nannte) schreiben, Texte also, die sich an intertextuellen Verweisen und sprachlicher Finesse erfreuen, und dabei gerne ignorieren, dass auf vielen vielen Seiten gar nicht viel passiert? Und begeht man nicht Verrat am Leser, wenn man ihm etwas empfiehlt, das er in seiner so kurzen Lese- und Lebenszeit lesen muss, und dafür auch noch Geld ausgibt, viel Geld bisweilen, und das ihm am Ende eher enttäuschen wird?

Wie spannend dagegen die Leseliste der Kritiker-Laien von „Our shared Shelf“ oder der Damen vom Buchclub in meiner Stadt! Bei genauerem Nachdenken darüber überrascht das allerdings gar nicht. Die meisten Mitglieder sind weiblich, 30-60 Jahre alt, allesamt gebildet, weitgereist, kosmopolitisch. Mit anderen Worten: Selbst wenn hier reine Geschmacksurteile gefällt werden, decken sie sich doch, aufgrund der soziokulturellen und demographischen Merkmale, mit dem Geschmack vieler LeserInnen.

Und das ist vermutlich das Geheimnis, warum die Sache mit dem Social Reading so gut funktioniert: Die Leser sind geeint durch gemeinsame Interessen. In diesem Sinne ist der Name von Emma Watsons Buchclub „Our shared Shelf“ durchaus auch wie „Our shared Self“ zu lesen, denn im Rahmen dieser Clubs findet das Selbst, das im Allgemeinen allein liest, nicht nur Mitdiskutanten weltweit, sondern teilt auch eine Identität (auch wenn das dem Wortsinne nach unmöglich ist). Jedenfalls sind Buchclubs und Social Reading vielleicht mehr als eine „Demokratisierung“ der Buchkritik. Sie sind eine Re-Habilitation des Geschmacksurteils, das so verwerflich gar nicht ist, wenn nur ausreichend viele Menschen diesen Geschmack teilen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marlen Hobrack

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Marlen Hobrack

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