Falls wir nicht sterben

Literatur Über Barbi Markovićs fulminante Parabel auf eine katastrophale, unaufgearbeitete „verschissene Zeit“
Ausgabe 41/2021
Wenigstens kein Krieg mehr: Öffentlicher Nahverkehr in Mazedonien
Wenigstens kein Krieg mehr: Öffentlicher Nahverkehr in Mazedonien

Foto: Robert Atanasovski/AFP/Getty Images

Nein, die 1990er Jahre dürfen nicht zurückkehren, da sind wir uns einig. Während die meisten von uns damit ein endgültiges Ende von Buffalo-Towers-Sneakern, Eurodance und Moonwashed Jeans meinen, geht es für Vanja, ihren Bruder Marko und ihre Freundin Kasandra um mehr. Die drei sind die Helden in Barbi Markovićs Roman Die verschissene Zeit, der sie auf einen fulminanten Trip durch das Belgrad der 1990er schickt. Eine Stadt, in der die Gebäude grau und die Menschen blau sind. Eine Zeit, in der Vanja zu Silvester einen gelben Schlafanzug anstelle von Spielzeug geschenkt bekommt. Eine Zeit auch, in der die Mutter ihrer Tochter beim Hinausgehen hinterherruft, sie solle sich nicht vergewaltigen lassen.

Die Eltern sind hoffnungslos, depressiv, von Medikamenten und Alkohol wahlweise ruhiggestellt oder aggressiv. Vanja hungert, sie will essen, konsumieren, die Zeichen der Zeit, die zeigen könnten, dass man dazugehört: die richtigen Schuhe, die richtigen Shirts, die richtigen Accessoires. Nichts davon haben Vanja, Marko und Kasandra. Ihr Leben besteht daraus, Opfer größerer und stärkerer Bullies zu werden, und als sei all das nicht genug, werden sie auch noch zu Zeitreisenden. Eines Tages nämlich katapultiert sie die Fehlfunktion einer explodierenden Zeitmaschine vier Jahre in die Zukunft.

Wie ein wilder LSD-Trip

Klingt abgedreht? Ist es auch. Die Kinder wachen in ihnen unvertrauten Körpern auf. Nur anhand ihres Tagebuchs kann Vanja rekonstruieren, was zwischenzeitlich geschehen ist. Ein Krieg. Vanja und die anderen haben Jahre des Jugoslawienkriegs verpasst und sie doch erlebt. „Falls wir nicht sterben, sehen wir uns morgen, falls wir sterben, werden wir morgen weitersehen“, heißt es lapidar im Tagebuch. Vanja, die Zeitreisende, ist womöglich nicht die Einzige, die diese unheimliche Dissoziation angesichts des Kriegsgeschehens erlebt. Als die Kinder an den Ort zurückkehren, an dem sie aus der einen verschissenen Zeit in die nächste katapultiert wurden, beginnt eine abenteuerliche Jagd nach einem geheimnisvollen Relikt: einem Goldmedaillon mit markantem Alligatorprofil, von dem ihnen der Zeitmaschineningenieur Miomir erklärt, es könne das Leben des Trägers nachhaltig verändern.

Was sich wie eine bunte Fantasy-Reise oder ein wilder LSD-Trip liest, ist noch viel mehr: eine Parabel auf eine katastrophale, unaufgearbeitete Zeit in der europäischen „Peripherie“, in der eine galoppierende Inflation und der wachsende nationale Hass in eine Katastrophe führen, die zahllose Menschen das Leben kostet. Die Jugendlichen, die in der Zeit vor- und zurückspringen, werden nicht nur mit den individuellen Nöten ihres eigenen, heranwachsenden Ichs konfrontiert, sondern auch mit der europäischen Katastrophe der Nachkriegszeit: einem neuen Krieg, auf europäischem Boden. Unter den fantastischen Fantasy-Elementen und den grandiosen Fluch-Tiraden der Kinder, die sich über ganze Absätze erstrecken können („Ich zerknacke dir den Kopf und breche dein Rückgrat, ich werde auf deinen Rippen Walzer tanzen, bis du Muttermilch pisst und Blut kotzt“), verbirgt sich eine todtraurige Geschichte über einen Landstrich zwischen Postsozialismus und Raubtier-Kapitalismus, in dem Nationalismus und Religion vorgeben, Sinn zu stiften. Es ist aber auch eine scharfe Kritik an Geschichtsvergessenheit, Vergangenheitsleugnung und der erstaunlichen Fähigkeit vieler Menschen, ihre eigene jüngste Vergangenheit zu vergessen: „Menschen können sich im Grunde nicht (richtig) erinnern. Häufig denken sie, dass sie sich erinnern, aber das stimmt nicht. Alle denken, dass sie sich erinnern, aber sie erinnern sich nicht oder sie erinnern sich falsch oder sie erinnern sich unterschiedlich, je nach Blickwinkel (und das tun sie dann auch jedes Mal ein bisschen anders).“

Bis die Maschine repariert ist

Miomir, der Zeitreisende, darf einen längeren Monolog über seine Gegenwart anstimmen: „Es ist alles falsch. Niemand sagt mehr Guten Tag und Danke und Bitte, niemand verwendet Konjunktive. Ich weiß, diese Zeit, die für mich erschütternd und katastrophal ist, ist für Sie alle Ihr Leben. Aber ich wollte zurück ins Jahr 1990, um die 90er, so wie sie jetzt sind, zu verhindern.“ Er erklärt, dass jederzeit wieder Zeitsprünge stattfinden könnten, bis die Maschine repariert ist, werde man sich in einem Zustand befinden, den er „Allneunziger“ nennt. Eine endlose Zeitschleife, die Wiederkehr des ewig Gleichen sozusagen. Sie müssen einen Ausweg finden. „Die verwahrlosten Grobiane würden mir und Ihnen stets alles wegnehmen. Der Krieg, der in unserem Namen und gegen unseren Willen geführt wird, würde nie wirklich enden.“

Marković wählt einen erzählerischen Kniff, sie adressiert Vanja in Form eines „Du“, so erscheint die Erzählerin wie eine ältere, allwissende Version Vanjas, die ihr jüngeres Ich durch die Zeit führt. Einmal mehr erweist sich Marković als fantastische Erzählerin einer bedrückenden und doch nie hoffnungslos anmutenden Welt. Ein echtes Happy End gönnt sie ihren Helden nicht. Aber immerhin: Die Kinder erringen kleine Siege gegen beschissene Bullies.

Info

Die verschissene Zeit Barbi Marković Residenz 2021, 304 S., 24 €

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

Marlen Hobrack

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