In ihrem legendären Essay Ein Zimmer für sich allein wirft Virginia Woolf die Frage auf, warum zu Shakespeares Zeit keine Frau Stücke wie der berühmte Dichter schreiben konnte. Im Gegensatz zu den weisen Männern ihrer Zeit kommt Woolf nicht im Traum auf die Idee, Frauen das Ingenium hierfür abzusprechen. Allein, es mangelte ihnen an den tatsächlichen Möglichkeiten. Woolf erfindet eine Schwester Shakespeares: Judith. Natürlich hätte sie keine Zeit gefunden, ihre Ideen auf Papier zu kritzeln, vermutlich hätten ihre Eltern sie zum Sockenstopfen und Bratenkochen verdonnert. Hätte man es für nötig befunden, ihr höhere Bildung zukommen zu lassen? Und selbst wenn, so hätten ihr doch alle materiellen Voraussetzungen fürs Schreiben gefehlt: Zeit, Geld, ein Zimmer für sich allein.
In gewisser Weise hatte Shakespeare aber doch eine Schwester. Oder eher eine Nichte. Aphra Behn nämlich, eine in ihrer Zeit höchst geschätzte Theaterautorin, die allerdings alsbald in Vergessenheit geriet, deren Stücke zuletzt in Großbritannien aber eine erstaunliche Konjunktur erleben. Schon im 20. Jahrhundert bemühte sich eine Frau um das Comeback der Komödiendichterin, Vita Sackville-West, die Geliebte Virginia Woolfs. Aphra Behns Revival auf englischen Bühnen hat mehrere Gründe: Als Frau, die Konventionen brach, Grenzen festgezurrter sexueller Identitäten sprengte und selbstbestimmt lebte, taugt sie gewissermaßen als Covergirl für heutige Feministinnen und den Wunsch, doch eine erfolgreiche Schwester oder eben Nichte Shakespeares zu entdecken.
Dass sie auf deutschen Bühnen immer noch weithin ignoriert wird, erscheint rätselhaft. Immerhin versuchte FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube im Rahmen der von Simon Strauss herausgegebenen Anthologie Spielplanänderung, Behn den deutschen Theatermachern und ihrem Publikum schmackhaft zu machen, habe sie doch „androgyne wie bisexuelle Maskenspiele, Verkleidungs- und Verwechslungsintrigen“ entworfen.
Der Spion, der sie liebte
Womöglich trägt nun eine neuerschienene Werkausgabe dazu bei, Behn einem breiteren Publikum näherzubringen. Publiziert wurde sie im Aviva-Verlag von Verlegerin Britta Jürgs, die seit Jahren Autorinnen wiederentdeckt und mit sorgfältigen Neuausgaben würdigt. Fliegen sollst du versammelt Gedichte, Dramen, Erzählungen und Romane Aphra Behns. Tobias Schwartz hat die Ausgabe mit einem Vorwort versehen und beantwortet darin selbst die Frage, ob Behn nicht die Annahme Virginia Woolfs widerlegt. Schwartz’ Urteil ist klar: Behn war zwar keine Tragödiendichterin und deswegen auf dieser Ebene auch nicht mit Shakespeare zu vergleichen. Aber: „Als Komödienautorin – zumal der frühen Neuzeit – sucht sie ihresgleichen, als Frau in ihrem Fach erst recht.“
Immer wieder tritt sie in ihren Werken als beglaubigende Erzählerin und Augenzeugin der Geschichte auf. So tritt weibliche „agency“ auf zwei Ebenen in den Vordergrund: Auf Ebene der Autorin, die sich nicht hinter einem männlichen Pseudonym verbirgt, und als Erzählerin, die sich selbstbewusst als berichtende, Wahrheit verbürgende Instanz inszeniert.
Das freilich mag ein weiterer Grund dafür gewesen sein, warum man ihr so manchen Skandal nachsagte – wer diese Geschichten so anschaulich schildern konnte, musste sie doch wohl erlebt haben? Womöglich aber mangelte es den Lesern auch an der Fähigkeit, zwischen Erzählerin und Autorin zu unterscheiden. Allerdings trichtern Germanistikdozenten diese Unterscheidung auch heute noch mühsam ihren Studenten ein.
Behn wurde 1640 in Wye in der Grafschaft Kent geboren. Mit ihren Eltern lebt sie später eine Zeitlang in der englischen Kolonie Surinam – dem Schauplatz ihres großen Romanes Oroonoko. Behns Geschichte enthält genau die Prise Mysterium, die dazu angetan ist, aus einer Autorin oder einem Autor eine Ikone zu machen: Sie heiratet einen niederländischen oder deutschen Kaufmann, der wahrscheinlich Spion ist. Später, nach dem Tod ihres Mannes, wird sie selbst Spionin des aus Frankreich zurückgekehrten Königs Charles des II. Sie spioniert in den Niederlanden unter Anhängern des alten Regimes, kehrt überschuldet nach England zurück und muss deswegen sogar in Haft. Ihre Bitten an den König, sie zu unterstützen, bleiben ungehört. Nach ihrer Freilassung wird sie sich nicht mehr auf Männer verlassen.
England befindet sich in einer restaurativen Phase nach dem Ende der Herrschaft Oliver Cromwells. Das Land hat Jahre des Bürgerkriegs hinter sich und eine puritanische Herrschaft, in der künstlerische Freiheiten insbesondere auf dem Theater massiv beschnitten wurden. Das Theater gilt nach wie vor als obszön und sittenlos. Tatsächlich sind die gezeigten Komödien deftig: Das Theater des 17. Jahrhunderts ist keine Veranstaltung der bürgerlichen Selbstvergewisserung, es wird gegessen, gegrölt, die Zuschauer wünschen Unterhaltung, keine sittliche Erbauung.
Das zeigt sich besonders deutlich in Behns erfolgreichstem Stück Der Freibeuter. Es begleitet das Schwesternpaar Hellena und Florinda bei ihren Abenteuern im Karneval Neapels. Während Hellena nach dem Karneval in ein Nonnenkonvent eintreten soll, wollen ihr Bruder und Vater Florinda zwangsverheiraten. Sie ist aber unsterblich in Belvile verliebt, der sie noch vor Ende des Karnevals „entführen“ soll. Hellena dagegen will im Karneval ihre Unschuld verlieren, und so entfaltet sich die Geschichte einer schwesterlichen Rebellion gegen patriarchale Verhältnisse – mit drastischer Komik und abenteuerlichen Possen. Etwa wenn der betrunkene Freund Belviles, Willmore, dessen Geliebte mit einer Prostituierten verwechselt und über sie herfällt. Oder wenn Hellena, als Mann verkleidet, die Prostituierte Angelica aufsucht. Es wäre falsch, Behn als eine Art Protofeministin zu feiern. Zuvorderst war sie eine Frau, die Handlungsspielräume auslotete und nutzte: Als Wegbereiterin des englischsprachigen Romans und als Komödiendichterin, die die Umkehrung der Verhältnisse zelebrierte. Schwartz schreibt: „Tatsächlich bewegt sie sich in der männlich geprägten Tradition – wie sollte es im Europa des 17. Jahrhunderts anders sein? –, gleichzeitig relativiert sie mit ihren Texten Konventionen ihrer Zeit, legt Machtstrukturen der patriarchalen Gesellschaft bloß, wendet sich gegen die Unterdrückung der Frau und entwickelt eine genuin weibliche Perspektive, die ihre Themenwahl maßgeblich bestimmt.“
Behn verfasste knapp zwanzig Stücke (nicht immer sind die Zuschreibungen eindeutig geklärt); auch über ihren Tod hinaus waren ihre Komödien an englischen Theaterbühnen äußerst beliebt. Sie ist mit den antiken Klassikern vertraut und sehr belesen; wie sie ihre Bildung erwarb, ist aber nicht klar. Wie alle Dichter ihrer Zeit (und danach) bedient sie sich bekannter Stoffe, gibt ihnen aber häufig eine neue Wendung und revolutionäre Form. Das zeigt sich am besten in ihrem Roman Oroonoko oder Der königliche Sklave.
Jungfrau in Nöten
Ihr 1688 erschienener Roman läutet in England die Ära des realistischen Romans ein, dreißig Jahre vor Daniel Defoes Robinson Crusoe. Es ist zudem der erste Roman mit einer Person of Color als Hauptfigur. Liest man den Roman heute, so erscheint die klare Erzählweise, die ohne zeittypische, langatmige Ausführungen auskommt, ungeheuer modern. Oroonoko ist das Opfer einer Intrige seines eigenen Großvaters, des Königs, der Oroonokos Geliebte Imoinda in seinen Harem zwingt und sie später in die Sklaverei verkauft.
Man spürt beim Lesen deutlich, dass Behn zeitgemäße Inhalte in eine neue, unerhörte Form bringt. Der greise Mann, der die schöne Jungfrau betatscht, ihr aufgrund seiner Altersschwäche aber nicht die Jungfräulichkeit rauben kann, bedient einerseits die Trope der Jungfrau in Nöten (hier aber, als Bruch mit der Konvention, eine schwarze Jungfrau) und spiegelt den auch in der bildenden Kunst beliebten Topos der unnatürlichen Verbindung zwischen Greis und junger Frau. Behn gibt dem aber nicht die Anmutung der Tragödie, sondern kleidet die Szenen in Komik. Etwa wenn die Erzählerin (!) nicht entscheiden mag, ob die Hände des Greises vor Erregung oder Altersschwäche erzittern. Mit allzu strengem zeitgenössischen Blick sollte man den Text nicht lesen. Zwar beschreibt er anschaulich das Leid der Sklaverei, das Behn selbst als Kind in Surinam miterlebte, aber er enthält eben doch Anmerkungen, die wir heute als problematisch, auch rassistisch betrachten: die Schönheit Oroonokos und Imoindas wird wiederholt als etwas beschrieben, das im Gegensatz zu ihrer als unschön markierten Hautfarbe steht. Zugleich spiegelt Behn das Bild des edlen Wilden, ebenfalls aus heutiger Sicht problematisch, in dieser Zeit aber Ausweis der Fähigkeit, den sogenannten Wilden eine eigene Ethik fernab der europäischen Moral zuzugestehen. Behn nimmt die Moral des weißen Mannes, der als ehrenvoll gilt, aber seine Versprechen kurzerhand bricht, erheblich aufs Korn.
Der Roman wirkt jedoch auch in die Realität zurück, wurde Behn doch in ihrer Zeit eine Liebesaffäre mit einem schwarzen Sklaven-Prinzen nachsagt. Allerdings gehört auch das in das Reich der Mythen, die diese Autorin umgeben und sicherlich auch dazu dienen sollten, sie zu verleumden.
Behn war für ihre Zeit eine Projektionsfläche, Adressatin unterschiedlicher Zuschreibungen. Vielleicht scheiterte Vita Sackville-Wests Versuch, Behn als Autorin wieder ins öffentliche Bewusstsein zu bringen, auch daran, dass sie die Person Aphra Behn ihrerseits mit Projektionen und Erwartungen ihrer Zeit überschrieb. So lautet der Titel der Biografie, die Sackville-West Behn widmete: The Incomparable Astrea. Astrea, das war der Deckname Behns als Spionin. Der Titel ist also auch Ausdruck eines Maskenspiels. Heute dagegen wäre es Zeit, die Texte, die ihrerseits Maskenspiele und Konventionsbrüche thematisieren, zu lesen.
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