Die zehnjährige Sylvie lernt eine neue Klassenkameradin kennen. Sie ist klein und zierlich, aber wissbegierig und forsch. Andrée alias Zaza wird Sylvies beste Freundin. Durch Zaza entdeckt Silvie die Liebe und dass es mehr gibt als ein heterosexuelles Verlangen, auch wenn die Beziehung strikt platonisch bleibt. In Simone de Beauvoirs Roman Die Unzertrennlichen, der Jahrzehnte lang unter Verschluss blieb und nun endlich im Rowohlt Verlag erschienen ist, setzt die Schriftstellerin einer nonkonformen Frau ein Denkmal.
Wer mit Simone de Beauvoirs Biografie vertraut ist, der weiß, dass Zaza keine reine Imagination ist. Sie ist die wohl wichtigste Freundin im Leben der Beauvoir. Allerdings stirbt Zaza (Élisabeth Lacoin) bereits im Alter von 22 Jahren. Profan betrachtet lautet
betrachtet lautet die Todesursache: Hirnhautentzündung. Für Beauvoir aber geht Zaza an den Verhältnissen zugrunde. An patriarchalen Strukturen, an der Unfähigkeit der Gesellschaft, Frauen als Subjekte mit Wünschen zu akzeptieren. Zaza verliebt sich zweimal. Den ersten Geliebten darf sie aus Standesgründen nicht heiraten. Er ist reich, aber nicht vornehm, und noch dazu zum Teil jüdisch. Der zweite Mann – im Roman Pascal Blondel, im wahren Leben kein Geringerer als Maurice Merleau-Ponty – zögert die Hochzeit aus Rücksicht auf seine Familie heraus. Zaza muss begreifen, dass ihre Gefühle keine Rolle spielen. Aus Verzweiflung rammt sie sich eine Axt ins Bein (im Roman, aber auch in der Realität).Sie litt unter ihrer Mutter„Zaza starb, weil sie versuchte, sie selbst zu sein, und man sie überzeugte, dass dieser Anspruch unrecht sei“, schreibt Sylvie Le Bon de Beauvoir, die Adoptivtochter Beauvoirs, im Vorwort zum Roman. Diesem ist auch eine Adresse Beauvoirs an Zaza vorangestellt: „Im Übrigen ist dies nicht wirklich Ihre Geschichte, sondern nur eine an uns inspirierte Geschichte. Sie waren nicht Andrée, ich bin nicht diese Sylvie, die in meinem Namen spricht.“ Oder soll man das doch als Freud’sche Verneinung – in der Konsequenz eine Bejahung – lesen? Beauvoir bearbeitet den tragischen Tod der Freundin mehrfach, unter anderem auch in ihren Memoiren einer Tochter aus gutem Hause (1958). Liest man Die Unzertrennlichen und die Memoiren parallel, so springt zunächst derselbe Ton, derselbe beschreibende Stil beider Texte ins Auge: Alles wird erklärt, nichts gezeigt.Das zeigt zunächst einmal die Grenzen der Beauvoir als Romanautorin auf. Weil aber Sprache und Erzählmodus dieselben sind, treten Parallelen und Differenzen der Texte umso deutlicher hervor. So finden sich in den Memoiren und im Roman identische Formulierungen, etwa wenn es um Zazas schwere Verbrennungen und die daraus resultierende Wulst an ihrem Bein geht. Beide Texte zeigen einen Klavierabend, bei dem Zaza ein sehr anspruchsvolles Stück gegen das Anraten ihrer Mutter spielt, und zwar fehlerfrei, weswegen sie ihr am Ende des Stückes die Zunge rausstreckt, was die gesamte anwesende Schulgemeinde pikiert. Die auffälligste Differenz zur Realität findet sich in Zazas Beziehung zu Pascal. Im Roman will Pascal aus Rücksicht auf seinen Vater nicht heiraten, während es im wahren Leben die Rücksicht auf die geliebte Mutter ist, die Merleau-Ponty von der Heirat abhält. Erscheint in Die Unzertrennlichen Sylvies Mutter nur als Randfigur, leidet Beauvoir enorm unter ihrer realen Mutter. Auch Zaza und ihre Mutter verbindet ein inniges, beengendes Verhältnis. Thema ist der Verrat der Mütter an den Töchtern. Die Mütter erscheinen als unmittelbare Verlängerung der patriarchalen Macht. „Mama fragte ich gar nicht erst, sie antwortete immer dasselbe wie Papa“, erklärt Sylvie im Roman.Die Mütter zwängen das System den Töchtern über, obwohl sie es doch besser wissen müssten. Sie repräsentieren Gouvernementalität in Reinform, sind liebende und strafende Macht in einem. „Man hatte mich dazu erzogen, das, was sein soll, mit dem zu verwechseln, was ist“, heißt es in den Memoiren. Beauvoir kann in dem Schicksal Zazas, deren Tod nicht einfach als Ergebnis eines bedauerlichen Infekts erscheint, sondern als die letzte Konsequenz ihrer Unterdrückung, auch das eigene Schicksal verarbeiten. Hier wie dort wacht ein frommes Umfeld über die Mädchen, umgibt das Thema Sexualität mit einem Schleier des Unanständigen, Unerhörten. Man könnte sagen, Beauvoirs Roman zeigt die Verdopplung von Simones Schicksal in der Figur der Zaza. Aber Zaza stirbt; Simone entscheidet sich für ein radikales Leben. Eine Bejahung, die aus einer anfänglichen Verzweiflung entsteht. „Lange genug hat sie in Verhältnissen gelebt, in denen über sie bestimmt wurde. Lange genug war sie in einer Familie wie gefangen, in der sie vor lauter Vorschriften und moralischen Geboten schier zu ersticken drohte“, schreibt Alois Prinz in seiner jüngst erschienenen Biografie über Beauvoir.Beauvoirs Text hat aber einen zweiten, womöglich noch wichtigeren Bezugspunkt, nämlich Violette Leducs Thérèse und Isabelle. Leducs Skandalroman, der das lesbische Begehren zweier Internatsschülerinnen schildert, wurde erst kürzlich in seiner ursprünglichen Version veröffentlicht. Skandalös ist nicht nur die Homosexualität, das sexuelle Begehren der Schülerinnen; die rohe, beinahe aggressive Art, mit der sich die jungen Frauen begehren, mag noch erschütternder wirken. Denn es entzaubert sowohl das Bild der zarten, sanften Weiblichkeit als auch das der frigiden Frau, die grundsätzlich gar kein Begehren hat. Leducs Text bearbeitet das Sexuelle, das Beauvoir im Roman vollständig ausklammert oder nur sehr subtil andeutet. Eine entscheidende Auslassung! Beauvoirs Begehren wird sich ihr Leben lang auf Männer und Frauen richten. Womöglich ist es die platonische Dimension der Beziehung zu Zaza, die sie von ihren anderen Lieben abhebt, und die deswegen auch im Roman nicht als sexuelles Begehren signifiziert wird. Zaza ist die Imagination einer reinen Liebe.Placeholder infobox-1